Pro Choice-Aktivismus

Kollektiven Widerstand organisieren, Feministische Zwischenräume gestalten

Immer wieder treten in München christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen auf den Plan, die ungewollt Schwangeren das Recht auf Abtreibung absprechen wollen. Die Pro Choice-Aktivist*innen der Antisexistischen Aktion München (ASAM) stellen sich diesen deshalb konsequent entgegen. Die feministische Praxis der Gruppe und der kollektive Kampf für körperliche Selbstbestimmung erschöpfen sich allerdings nicht im Dagegenhalten, sondern sind zutiefst geprägt von den gemeinsamen Vorstellungen einer besseren Welt. Diese ist nah und fern zugleich, denn teilweise verwirklicht wird sie bereits in den von der Gruppe geschaffenen Zwischenräumen und der Art und Weise, wie sich die Aktivist*innen aufeinander beziehen und zusammenarbeiten.

Anna Klaß und Helena Eisenburg

Was bisher geschah…

Wo es feministische Bewegungen gibt, gibt es immer auch antifeministische Bestrebungen, diese einzudämmen oder zunichte zu machen. Dieses Video skizziert daher – mit Blick auf München – kurz die historischen Entwicklungslinien der Kämpfe für das Recht auf Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung sowie die Anfänge der sogenannten »Lebensschutzbewegung«.

…Fortsetzung folgt >>

Status Quo

Der Kampf für das Recht auf Abtreibung war bereits ein zentrales Anliegen der zweiten Frauenbewegung. Und dennoch: eine Legalisierung von Abtreibungen konnte bis heute nicht bewirkt werden. Stattdessen bleibt ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche lediglich straffrei und das auch nur, wenn zuvor eine Beratung und eine anschließende dreitägige Bedenkzeit stattgefunden hat. Diese Form der Bevormundung und Kriminalisierung schwangerer Menschen wird durch den Paragraphen § 218 im StGB geregelt.

Bis zur Reform des Paragraphen § 219a im Jahr 2019 durften Ärzt*innen und Krankenhäuser auf ihren Webseiten zudem nicht einmal erwähnen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Dabei sind ohnehin nur sehr wenige Ärzt*innen dazu befugt, denn dafür bedarf es einer Zusatzausbildung. Inzwischen dürfen sie zwar darauf hinweisen, dass sie einen Eingriff anbieten, es wird ihnen allerdings verboten, über die von ihnen verwendeten Schwangerschaftsabbruchmethoden (Absaugmethode, Abtreibungspille oder Ausschabung) aufzuklären. Dies würde ihnen laut Paragraph §219a nämlich als »Werbung« ausgelegt werden und ist strafbar. Informationen darüber sind also nur über Umwege zu bekommen.

Übrigens: Die Paragraphen § 218 und § 219 stehen im Strafgesetzbuch gleich hinter Mord und Totschlag.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

Laut Ärzte ohne Grenzen sterben jährlich circa 22.800 Menschen weltweit an den Folgen unsicherer und unsachgemäßer Abtreibungen. Diese treten vor allem dort auf, wo Abtreibungsgesetze besonders restriktiv sind oder ein totales Abtreibungsverbot vorliegt und Schwangerschaftsabbrüche daher im Verborgenen stattfinden müssen. Unsichere Abtreibungen gab es schon immer und wird es immer geben – solange sich die Versorgungs- und Gesetzeslage nicht verändert.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

Immer weniger Ärzt*innen in Bayern bieten Schwangerschaftsabbrüche an. So gibt es zum Beispiel in Niederbayern und der Oberpfalz keine einzige Klinik oder Ärzt*in, die Abtreibungen auf Wunsch der schwangeren Person noch bis zur 12. Woche durchführen (Stand: Februar 2021). Denn in den lokalen Krankenhäusern besteht diese Möglichkeit nur, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Um eine Abtreibung durchführen zu lassen, müssen Betroffene daher zum Teil einen Weg von mehr als 200 km auf sich nehmen.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

Die Ärztin Kristina Hänel wurde 2019 vom Gießener Landgericht zu einer Geldstrafe von 2.500 Euro verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über die von ihr praktizierten Schwangerschaftsabbruchmethoden informierte. Seit Januar 2021 ist das Urteil nun rechtskräftig. Hänel will Verfassungsbeschwerde einreichen.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

2016 verabschiedeten die CSU-Politiker Horst Seehofer und Ludwig Spaenle eine neue Richtlinie für Familien- und Sexualerziehung. Diese besagt, dass es an bayerischen Schulen Aktionstage gegen Abtreibungen geben soll. Was beinahe schon in Vergessenheit geraten war, kochte nun Anfang 2021 wieder hoch, als ein Abgeordneter der AfD darauf drängte erfahren zu wollen, wie es denn um die Umsetzung stehe.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

Die »Schwangerschaftskonfliktberatung« Pro Femina in München ist eine Scheinberatungsstelle, denn sie ist überhaupt nicht dazu befugt, offizielle Beratungsscheine auszustellen. Auf ihrer Webseite wird dies allerdings mit keinem Wort erwähnt. Schwangere, die auf ihren seriös wirkenden Auftritt hereinfallen und die alles andere als »neutrale« Beratung in Anspruch nehmen, verlieren dadurch Zeit, die sie nicht haben.

Was zur Hölle

Was zur Hölle?!

Der Verein »Helfer für Gottes kostbare Kinder« veranstaltet in München monatliche Gebetsmärsche (Vigilien). Circa 10-30 fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen ziehen zu diesem Anlass singend durch die Straßen und halten Plakate mit Aufschriften wie »Danke Mama, dass ich leben darf« in die Höhe. Dabei belagern sie abwechselnd die Schwangerschafts-Beratungsstelle Pro Familia sowie lokale Zentren und Kliniken, in denen Abtreibungen durchgeführt werden.

Was bedeutet Pro Choice?

Eine zentrale Forderung von Pro Choice-Aktivist*innen ist die ersatzlose Streichung der Paragraphen § 218 und § 219 im StGB. Nicht selten werden sie deshalb in Medienberichten als »Abtreibungsbefürworter*innen« betitelt. Doch diese Darstellung ist zu verkürzt und eindimensional. Ziel ist es vielmehr, Strukturen zu schaffen, innerhalb derer Menschen selbst über sich und ihren Körper bestimmen dürfen und ihren eigenen Lebensentwurf frei ausleben können. Unter dem Begriff Pro Choice versammelt sich so ein Konglomerat sehr heterogener Forderungen, die nicht nur auf die Überwindung patriarchaler Strukturen abzielen, sondern verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden trachten (siehe: Intersektionalität). Denn Selbstbestimmung ist nur dort möglich, wo rassistische, homo- und behindertenfeindliche Unterdrückungsverhältnisse, die beispielsweise Geflüchteten, gleichgeschlechtlichen Partner*innen oder Menschen mit Behinderung eine Elternschaft immer wieder absprechen, konsequent abgebaut und bekämpft werden. Auch bedarf es einer Umverteilung materieller Ressourcen, sodass die Abwägung für oder gegen eine Schwangerschaft nicht länger von der finanziellen Situation und den zeitlichen Kapazitäten einer Person determiniert wird. Schließlich braucht es auch einen Bewusstseinswandel. Denn das Großziehen von Kindern sollte nicht zwangsläufig in den Verantwortungsbereich vor allem weiblich gelesener Personen verschoben werden. Es sollte vielmehr die Möglichkeit bestehen, dies (beispielsweise im Kontext alternativer Familienentwürfe) auch zu einer kollektiven Aufgabe zu machen. Um das zu gewährleisten, wird auch ein Ausbau unterstützender Infrastrukturen gefordert.

Dies sind die wichtigsten Forderungen und Ziele von Pro Choice:

Schluss mit der rassistischen Ausgrenzung geflüchteter Menschen!

Schwangerschaftsabbrüche als verpflichtender Teil der medizinischen Ausbildung

Schluss mit Heteronormativität

Kostenlose Kita-Plätze für alle!

Unterstützungsstrukturen für​ Menschen mit Behinderung in allen Bereichen

Bedingungsloses Grundeinkommen

Mehr Unterstützung für Lebensentwürfe jenseits der Kleinfamilie

Kostenlose Verhütungsmittel für alle

Abtreibungen entstigmatisieren!

Der Kampf muss weitergehen!

»Es ist auch einfach aus der feministischen Geschichte heraus gesehen ein Riesenthema. Und es darf nicht passieren, dass dieser Kampf nicht mehr geführt wird. Irgendwer muss ihn halt weiterführen. Und das Thema zeigt einem ja schon auch ganz klar warum wir Feminismus brauchen. Und warum wir noch lange nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben.« Nina

Kollektiven Widerstand organisieren

Im Mai 2019 stand in München wieder der jährliche 1000-Kreuze-Marsch an. Das heißt: Akteur*innen des christlich-fundamentalistischen Vereins Euro Pro Life hatten angekündigt, erneut mit weißen Holzkreuzen durch die Innenstadt zu ziehen und dabei performativ um die unzähligen „Ungeborenen“ zu trauern. Denn Abtreibung bedeutet für sie nichts anderes als »Tötung« und sei daher schleunigst zu verbieten. Doch unwidersprochen sollte der öffentliche Raum den Abtreibungsgegner*innen und ihren dezidiert homofeindlichen und antifeministischen Positionen nicht überlassen werden (siehe: Antifeminismus):

»Aber dann hat sich eine Pro Choice Gruppe gebildet und es gab so einen Aufruf zu: Hey, konkrete Aktion. Wir treffen uns jetzt um diesen 1000-Kreuze-Marsch zu fronten. Im Prinzip ja schon auch super spannend, dass das, was den Anfang von so einer Pro Choice Gruppe ausmacht eigentlich so ein Gegenprotest zu Arschlöchern ist.« Franzi

Aufgrund dieses konkreten Anlasses kam es also zu einem projektbasierten Zusammenschluss feministischer Aktivist*innen, die im Vorfeld sowohl die Gegenproteste für den Tag des Marsches selbst organisierten, als auch eine thematisch passende Vorabend-Demo auf die Beine stellten, bei der es darum ging, eigene Impulse zu setzen. Damit nahm sich die Gruppe gleichzeitig auch einer Leerstelle an, denn zu diesem Zeitpunkt gab es in München kein feministisches Kollektiv, das sich explizit dem Thema Pro Choice gewidmet hätte. Da das generelle Miteinander und die Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe als sehr bereichernd empfunden wurden und den Aktivist*innen das Thema am Herzen lag, etablierte sich schon bald eine feste Gruppe: Die Antisexistische Aktion München.

 

»Aber genau, gegen diese Normen, gegen dieses Paket an Strukturen sich jeden Tag durchzuwuseln, ist super schwierig und ich glaube solche Demo-Tage machen die Struktur einfach sehr sichtbar. Und sind wahrscheinlich so Pfeiler, Kompasse, um nochmal zu sehen: Ok ja, es ist wichtig was dagegen zu tun. Und um es vielleicht noch deprimierender zu machen: es ist ja nicht der 1000- Kreuze-Marsch. Es ist so jeder Tag. Aber an den Tagen ist es eben auf der Straße und man kann sich so körperlich gemeinsam dagegenstemmen.« Franzi
Was zur Hölle
»Aber genau, gegen diese Normen, gegen dieses Paket an Strukturen sich jeden Tag durchzuwuseln, ist super schwierig und ich glaube solche Demo-Tage machen die Struktur einfach sehr sichtbar. Und sind wahrscheinlich so Pfeiler, Kompasse, um nochmal zu sehen: Ok ja, es ist wichtig was dagegen zu tun. Und um es vielleicht noch deprimierender zu machen: es ist ja nicht der 1000- Kreuze-Marsch. Es ist so jeder Tag. Aber an den Tagen ist es eben auf der Straße und man kann sich so körperlich gemeinsam dagegenstemmen.« Franzi

Handlungs(ohn)macht

Bei Straßenprotesten wie etwa jenen gegen den 1000-Kreuze-Marsch versammeln sich die feministischen Aktivist*innen, um gemeinsam Kritik zu üben. Denn personifiziert durch die christlichen Fundamentalist*innen gewinnen die abstrakten patriarchalen Unterdrückungsstrukturen so weit an Substanz, dass ihnen körperlich etwas entgegengesetzt werden kann. Gleichzeitig eröffnet jene kollektive Praxis des Protests auch die Möglichkeit, Aufmerksamkeit für die Pro Choice Thematik zu erzeugen und bestimmte Inhalte nach außen zu tragen. Als öffentliche Akteurin tritt die Gruppe ASAM nämlich auch für all diejenigen ein, die nicht zu Wort kommen oder stumm bleiben, aber dennoch unter diesen patriarchalen Zuständen leiden. Die Besetzung des öffentlichen Raums und die dadurch erkämpfte Sichtbarkeit hat aber auch ihre Schattenseiten, denn diese Form der Exponierung macht angreifbar (etwa für Polizeirepression oder die Diffamierung durch politische Gegner*innen) und bringt die Aktivist*innen dadurch in vulnerable Positionen.

Tatsächlich entsteht Verwundbarkeit aber nicht erst im Moment des politischen Protest, denn meist sind bereits zuvor bestehende Erfahrungen mit Alltagsdiskriminierung und dem Gefühl der Handlungsohnmacht innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen überhaupt erst der Anlass dafür, dass Personen sich auf die Straße und in diese angreifbare Position begeben. Denn die Strukturen, die diese belastenden Erfahrungen hervorbringen, umgeben uns jeden Tag und bestimmen für Betroffene auf vielfältige Weise das alltägliche Leben.

Dort, wo patriarchale Verhältnisse gemeinsam sichtbar gemacht und angeprangert werden, besteht auch die Chance, vermeintlich Unveränderbares herauszufordern. Während die individuellen Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen nämlich zwangsläufig beschränkt bleiben müssen, kann die kollektive Organisierung und Mobilisierung Veränderung bringen. Über die Erfahrung von Kollektivwirksamkeit erlangen die Aktivist*innen so auch eine gewisse Handlungsfähigkeit (zurück), denn was bleibt, ist das Gefühl, gemeinsam etwas auf die Beine gestellt zu haben:

»Und es ist natürlich schon auch so ein Ding von ›ich hab dem was entgegengesetzt, ich hab was gemacht mit den Möglichkeiten, die ich habe…‹ – und versöhnt einen so bisschen mit dieser Handlungsohnmacht, die man oft fühlt.«
Maria

Ganz nach dem Motto der zweiten Frauenbewegung „das Private ist politisch“, werden persönliche Erfahrungen dabei nicht einfach ausgeklammert, sondern politisiert und gemeinsam be- und verarbeitet. Mit diesem Sprung aus der Vereinzelung stellt die politische Arbeit der Gruppe und das damit verbundene Einüben von Praxen des öffentlichen Aufbegehrens und Widersprechens auch für das eigene Leben der Aktivist*innen eine große Bereicherung dar. Denn hier bietet sich die Möglichkeit, den eigenen Feminismus gemeinsam auszudrücken und zu neuer Bedeutung zu verhelfen, ihn auf die Straße zu bringen und in die Welt hinauszuschreien.

Was zur Hölle
»Und ich meine gemeinsam zu kämpfen ist auf jeden Fall besser als alleine. Darum macht‘s Sinn sich gemeinsam solidarisch zu organisieren. Gegen das Patriarchat und seine Fans.« Franzi
»Das fand ich echt, also so nach dem 1000-Kreuze-Marsch letztes Jahr war es irgendwie so absurd, aber gleichzeitig auch so schön, dass wir halt alle noch ewig draußen waren, um sicherzustellen, dass alle wieder freigelassen werden, und dann sind wir alle gemeinsam wohin gegangen und kaum waren wir da angekommen, ich glaube, ich hab‘ als erstes geheult. So richtig schlimm, also einfach so Nervenzusammenbruch und alle haben sich um mich gekümmert. Und ne Stunde später haben noch drei andere Leute geheult und dann haben sich um die alle gekümmert. Irgendwie konnten alle heulen und das war total ok, alle haben sich gekümmert und am Ende vom Abend waren dann irgendwie alle gut drauf und haben auf dem Kicker getanzt. Und das war auch so ein Moment, wo ich mir dachte: das ist halt Solidarität. Also irgendwie die scheiß Momente miteinander haben, aber dann wird halt auch alles wieder gut und lustig.« Nina

Dagegen- und Zusammenhalten

»Und das endet halt damit, dass man sich nach einem 1000-Kreuze-Marsch trifft, um gegenseitig füreinander da zu sein und irgendwie den Abend zusammen zu verbringen und auch so Sachen, die einen belasten, zusammen irgendwie aufzuarbeiten. Und dass Leute von der Gruppe dann nicht irgendwie mit Erfahrungen alleine dastehen, die sie gemacht haben.« Ronja

Die politische Praxis der Gruppe ASAM besteht nicht nur aus dem Dagegenhalten. Mindestens ebenso wichtig ist das Zusammenhalten und Füreinander-Da-Sein. Das konsequente Mitdenken der Folgen von (Polizei-)Repression ist dabei ein wesentlicher Faktor. So wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass nach einem anstrengenden und nervenaufreibendem Demo-Tag alle, die das Bedürfnis verspüren jetzt nicht alleine zu sein, an einem geschützten Ort noch einmal zusammenkommen können (siehe: Safe Space). Dort werden Verletzungen und belastende Erfahrungen bei Bedarf gemeinsam aufgearbeitet und damit ein Stück weit vom Kollektiv aufgefangen. Das Teilen dieser Erfahrungen bedeutet dann nicht Schwäche. Im Gegenteil ist der gemeinsame Umgang und die gegenseitige, emotionale Unterstützung als eine besondere Stärke zu betrachten. Denn diese Selbstverständlichkeit, mit der man sich auf die Unterstützung der Gruppe verlassen kann, schweißt die Aktivist*innen am Ende des Tages nur noch mehr zusammen.

Hier zeichnet sich bereits der Stellenwert ab, den ASAM der gegenseitigen Fürsorge innerhalb der Gruppe einräumt. Doch das macht ASAM noch lange nicht zu einer bloßen Selbsthilfegruppe. Stattdessen führt die Abkehr von einer leistungsorientierten hin zur bedürfnisorientierten Zusammenarbeit am Ende dazu, dass die Gruppe auf Dauer arbeitsfähig bleibt und wichtige politische Arbeit leisten kann.

Freiheit unser,
du heißt Feminismus.
Wir kämpfen in unserem Namen,
was auch komme.
Unser Wille geschehe,
wie im Alltag,
so auf der Straße.

Dieser Auszug stammt aus dem von Pro Choice Aktivist*innen verfassten »Antisexistischen Gebetsbuch«. Bei Gegenprotesten wird manchmal laut daraus vorgelesen, um die Betgesänge der christlich fundamentalistischen Abtreibungsgegner*innen zu parodieren.

»Dass wir zusammen etwas geschaffen haben« – Kollektive Praxis bedeutet Aushandlung

Straßenproteste sind – ähnlich wie die auf der Webseite der Gruppe veröffentlichten Blogeinträge und Artikel – der wohl sichtbarste Teil der politischen Arbeit ASAMs. Wie viel zu deren Gelingen aber im Hintergrund geplant, durchgeführt und gemeinsam ausgehandelt werden muss, bleibt meist unsichtbar. Wenn zum Beispiel ein Aufruf für den Protest gegen den 1000-Kreuze-Marsch geschrieben wird, finden sich in der Regel ein paar Personen zusammen, um dies gemeinsam zu tun. Im Anschluss lesen andere nochmal darüber und machen gegebenenfalls Änderungsvorschläge, sodass auch wirklich jede Person mit dem Ergebnis einverstanden ist. Ein Mitspracherecht haben dabei alle, denn es geht dabei ja auch um die zentrale Frage, wie sich die Gruppe nach außen präsentieren möchte. Die Verantwortung für den produzierten Text liegt so nicht auf der Einzelnen, sondern wird von allen gemeinsam getragen. Diese Aushandlungsprozesse sind wichtig, nehmen aber auch viel Zeit in Anspruch.

Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass das alles neben anderen Verpflichtungen wie Lohnarbeit, Uni, Alltag etc. stattfinden muss. Was das besondere Miteinander von ASAM ausmacht, ist, dass zwar als Gruppe agiert wird, die Bedürfnisse und Kapazitäten von Einzelpersonen dabei aber immer berücksichtigt werden. Deshalb wird auch Reflexionsprozessen viel Raum gegeben und stark auf wertschätzendes und solidarisches Redeverhalten geachtet, denn das Selbstverständnis als feministische Gruppe wirkt sich nicht nur auf die Arbeit nach außen, sondern auch auf die Beziehungsgestaltung zueinander aus.

Beispiel: To-Dos für die Organisation eines Gegenprotestes

Ο Kundgebung/Demonstration anmelden
Ο Aufgabenverteilung
Ο Sharepics für Social Media erstellen
Ο Aufruf schreiben
Ο Motto überlegen
Ο Vernetzung
Ο Twittern
Ο Infos auf den Blog
Ο Fotograf*innen anschreiben
Ο Lautsprecher, Mikro etc. besorgen
Ο Kostenaufstellung machen
Ο Flyer und Plakate drucken
Ο Material organisieren
Ο Schilder und Transparente malen
Ο Antirepression mitdenken
Ο Ablauf der Veranstaltung festlegen
Ο Infos spreaden
Ο Auf- und Abbau organisieren
Ο Redebeiträge verfassen
Ο Pressemitteilungen schreiben
Ο Moderation
Ο Nachbericht schreiben
Ο Reflexion und Aufarbeitung

»Und da eben immer wieder diesen Schritt zurück oder zur Seite zu gehen und zu sagen: ›Ich nehm dich mit oder ich lass dich das machen. Ich hätt’s vielleicht anders gemacht, aber so wie du’s machst, ist es genau gut‹. Das ist nicht einfach, da bin ich ehrlich so. Weil manchmal denke ich: ›Mmhhh, da ist ein Fehler‹ (lacht). Aber so what!? Und eben eher dann zu sehen, zu sagen: Hey, da können Menschen wachsen und da können Menschen sich an Dinge herantasten in einem – finde ich – totalen Safe Space.« Barbara
»Und ich glaube bei ASAM merkt man das im Miteinander. Es fängt dabei an, wenn jemand sagt‚ ich hab grad keine Kapazitäten‘ oder so, dass dann nicht mit den Augen gerollt wird und keine Ahnung. Sondern, dass es voll okay ist, dass irgendwie manche Leute zu manchen Zeiten mehr reinstecken können und manchmal weniger.« Ronja

Feministische Zwischenräume gestalten

Im solidarischen Miteinander der Gruppe wird ein Zwischenraum geschaffen, der ein Gegenmodell zu Beziehungen und Kommunikationsweisen in anderen gesellschaftlichen Kontexten darstellt, die stark von Leistungsanforderungen und Hierarchien geprägt sind. Dieser Raum zeichnet sich durch machtsensible Praktiken der gegenseitigen Fürsorge aus wie beispielsweise das Zuhören, Nachfragen, Verständnis zeigen etc.. Ein Gegenmodell stellt dies insofern dar, als dass diese Praktiken sonst meist immer noch weiblich konnotiert sind. Das heißt, sie werden tendenziell eher weiblich gelesenen Personen zugeschrieben, sodass sie am Ende in Interaktionen oft diese Rolle übernehmen. Wenn Personen sich darüber beschweren, erhalten sie oft die Antwort, dass sie sich eben besser durchsetzen müssten. Dabei ist das Problem nicht, dass diese Praktiken überflüssig wären, sondern dass sie oft nur sehr einseitig übernommen werden. Als feministische Gruppe haben diese Praktiken bei ASAM einen hohen Stellenwert für die Beziehungsgestaltung zueinander, denn in ihrer Vorstellung einer besseren Gesellschaft sollten diese nicht weniger, sondern mehr Raum einnehmen und selbstverständlicher werden. So entsteht in der Gruppe ein Safe Space, in dem neue Formen des Mit- und Füreinanders erprobt, gestaltet und gelebt werden können.

»Also ich find einfach die Gruppe – da haben wir jetzt schon TAUSENDMAL drüber geschwärmt, aber das ist einfach so. Also es gibt auch super viel zurück und das ist einfach eine echt tolle Zusammenarbeit, die ich sonst nirgends habe. Wo man so liebevoll tatsächlich miteinander umgeht und trotzdem so weit kommt und so coole Sachen macht. Das ist ja genau das Gegenmodell, das wir da machen zu dieser Gesellschaft, die so voll auf Leistung getrimmt ist. Und genau, das gibt mir schon viel.« Barbara
»Und ja, ich finde einfach den Umgang miteinander und die Art und Weise wie man sich kritisiert und wie man sich gegenseitig voranbringt so gut. Was halt irgendwie weiblich ist und nicht so ein (verstellt Stimme) ›Öh, wir müssen da irgendwie Stärke zeigen‹ und so. Weil nein, müssen wir nicht. Warum? Wir können uns auch mal hinsetzen n halbes Plenum und weinen. Warum nicht? Gabs auch schon.« Barbara
»Ich glaube einfach, dass menschliche Umgangsweisen krass davon geprägt sind, wenn man eben ein feministisches Selbstverständnis hat oder versucht sich damit zu beschäftigen. Und dass tendenziell ein angenehmerer Umgang herrscht je mehr sich Menschen damit auseinandersetzen. Und ich glaube deswegen hat es auch irgendwie diesen Stellenwert fürs persönliche Leben, auch ganz unabhängig davon, was für ein zentraler Aspekt das für eigene politische Utopien ist.« Ronja
»Also ich würde sagen eine Gruppe entsteht aus ihren Elementen. Wir bestehen ja aus Individuen und jede von uns ist ja im Prinzip eine AG. Also jede von uns bringt ja irgendwas mit, wir setzen uns mit irgendwas auseinander. Entweder in unserem Leben oder auf theoretische Art und Weise. Ich lese irgendwelche Bücher, ich schau mir irgendwelche Filme an, ich erlebe irgendwelchen Scheiß auf der Straße. Das bedeutet, ich komme gar nicht aus an dem Thema zu arbeiten, wenn wir jetzt so den großen Bereich Sexismus, Antifeminismus, dies, das betrachten. Auch ich komm gar nicht aus, mir zu überlegen: Wo will ich überhaupt hin? Und das bedeutet im Prinzip bin ich ständig so eine winzige AG, die für sich selber arbeitet, und ich finde so AGs in unserer Gruppe zu machen ist ja irgendwie so das Erkennen, dass wir doch nicht so individuell sind, wie wir es manchmal von uns denken, wie es uns diese Gesellschaft weis zu machen versucht. Sondern es haben sich da auch schon andere Leute damit auseinandergesetzt, es haben vielleicht auch andere Leute Bock ein Buch zu lesen, das auch bei mir zuhause rumliegt und ich glaube, das ist eher so eine Vergemeinschaftung von ›lass das doch gemeinsam machen‹ und das in die Gruppe zu tragen und das, was man eh schon macht gemeinsam zu machen.« Franzi
 

Raum für Veränderung

»…Und dass wenn Personen was einbringen wollen, dass dem immer Raum gegeben wird und dann wird geguckt, ob das kapazitätsmäßig umsetzbar ist. Also sowas wie neue Themen aufzunehmen oder Projekte zu starten.« Ronja

Die Gruppe ASAM begreift sich als Ort, in dem sich Einzelne einbringen, ausprobieren und neue thematische Impulse setzen können. Denn jede Person in der Gruppe bringt selbst schon einen bepackten ​Rucksack voller Erfahrungen, Verletzungen, Wissensvorräte, Interessen und Wünsche mit. Indem diese geteilt und kollektiviert werden, ergeben sich plötzlich ganz neue Perspektiven und es wird ein Raum eröffnet, in dem es möglich wird, sich auf eine Art und Weise aufeinander zu beziehen, die individuelle Interessen und Betroffenheiten gleichsam transzendiert. Das heißt: Es ist keineswegs so, »dass jede nur für sich selbst sprechen kann«, sondern es wird eine gemeinsame Sprache entwickelt. ASAM ist somit mehr als die Summe seiner Individuen.

So kam es, dass sich die Gruppe inzwischen beispielsweise auch mit Themen wie Partner*innenschaftsgewalt oder den sexistischen Machenschaften selbsternannter Pick-Up-Artists auseinandersetzt. Die beständige Weiterentwicklung der Themen und somit auch Aktionsfelder wird schließlich in kleinere Arbeitsgruppen ausgelagert und dann wieder ins große Plenum (zurück-)getragen. Dies ist letztendlich auch der Grund, warum sich ASAM gegen das Verfassen eines festgeschriebenen Selbstverständnisses entschieden hat. Denn ebenso wie die Gesellschaft, befinden sich auch die Einzelpersonen in der Gruppe und deren theoretische Verständnisse in einem ständigen Prozess des Wandels. Die Gruppe ist somit nicht statisch, sondern verändert sich beständig.

 

Gegen diese patriarchalen Zustände…

»Der Feind steht nicht still«, meint die Aktivistin Maria. Seien es Pick-Up-Artists, die in ihren sexistischen Seminaren Frauen zu manipulierbaren Objekten degradieren, christliche Fundamentalist*innen, die in ihren Aufmärschen um das (in ihren Worten) „ungeborene Leben“ trauern und/ oder rechte Positionen (von Neonazis bis zur sogenannten Mitte), für die der reproduktionsfähige, weiblich gelesene Körper insbesondere auch heute wieder ein vielleicht nicht zentrales, aber trotzdem weiterhin wirkmächtiges Aktionsfeld darstellt – immer wieder ist die Gruppe gezwungen mit Gegenprotest zu reagieren. Es sind jene Ausformungen des Patriarchats, die die Aktivist*innen in ihren Handlungsmöglichkeiten beständig einschränken, weil sie auch im Alltag der Gruppe viel Raum einnehmen. Gleichzeitig sind sie aber auch der Grund, weshalb ASAM allen Widrigkeiten zum Trotz immer weiterkämpft (siehe: Antifeminismus, Sexismus).

Am Ende des Tages geht es jedoch nicht um die Verteidigung des Status Quo gegen etwaige Gegenspieler*innen, sondern um das Bewirken eines transformativen Wandels. Es geht also nicht um eine bloße Strafrechtsreform (die Abschaffung der Paragraphen §218 und §219), sondern darum, gesellschaftliche Strukturen so zu verändern, dass ein selbstbestimmtes Leben in ihnen möglich wird. Beim Nachdenken über Utopien und Ziele bleiben die Mitglieder der Gruppe allerdings häufig am eigenen Nahfeld hängen und orientieren sich an der Frage: „Was wollen wir nicht?“. Nichtsdestotrotz – und das betont auch die Aktivistin Franzi – kann und soll der Fokus nicht nur auf dem liegen, »wogegen ich eigentlich grad bin«, denn dann ginge eine wichtige Einsicht verloren. Nämlich die, dass auch mal »FÜR UNS« gestritten werden muss.

»Das ist schon immer viel so dagegenbauen, dagegenhalten, Sachen nicht schlimmer werden lassen.« Maria

… für eine bessere, solidarische Gesellschaft

Solidarität ist im Kontext der Gruppe als eine soziale Praxis zu verstehen, die sich weniger aus Gemeinsamkeiten (wie etwa »Geschlecht« oder »Ich habe abgetrieben«) speist, sondern vielmehr aus dem Verfolgen gemeinsamer Ziele und dem Wissen – wie es die Aktivistin Barbara formuliert, »dass man an einer Gesellschaft arbeitet, die für alle ein bisschen besser ist«. Das Formulieren gemeinsamer Utopien und positiver Ziele ist für den Aktivismus der Gruppe daher zentral. Eine wichtige Praxis ist es deshalb, sich auch mal bewusst Zeit zu nehmen, um sich als Gruppe die Frage zu stellen: Was wollen wir eigentlich? Und: Was brauchen wir, um unsere Vorstellung von einem guten Leben verwirklichen zu können? Im Rahmen eines solchen Reflexionsprozesses ist schließlich auch das Plakat entstanden. Dabei wurde darauf geachtet, sich auch ein Stück weit von denjenigen Grenzen zu lösen, die im alltäglichen Aktivismus leider nicht ausgeklammert werden können (also Zeit, Kapazitäten, Geld etc.). Den Raum des Denk- und Vorstellbaren zu erweitern und sich eine Welt auszumalen, die radikal anders ist, fiel den Aktivist*innen beim freien Sammeln auf dem Plakat sicherlich nicht immer leicht. Deutlich wurde aber, dass gewisse Begriffe und Aspekte allen gemeinsam wichtig sind.

Geteilte Utopien können schließlich handlungsleitend und sinnstiftend wirken, denn sie führen den Aktivist*innen einmal mehr vor Augen, wofür sie eigentlich politische Arbeit leisten. Gleichzeitig kommen sie in den solidarischen Praxen der Beziehungsgestaltung und der Kommunikation schon konkret zur Anwendung. So arbeitet man nicht nur auf ein weit entferntes Ziel hin, sondern kann manche Aspekte davon bereits im Hier und Jetzt verwirklichen. Das wertschätzende, feministische Miteinander, das die Gruppe so auszeichnet, ist in diesem Kontext also schon ein Stück gelebter Utopie.

Mehr über die Antisexistische Aktion München:
www.asam.noblogs.org

Autorinnen:
Anna Klaß und Helena Eisenburg

Alle verwendeten Bilder von Reflektierter Bengel, Josef A. Preiselbauer und der Antisexistischen Aktion München.
Quellen:
Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Berlin.
Achtelik, Kirsten (2018): Für Föten und Werte. Die »Lebensschutz«-Bewegung in Deutschland. In: Lang, Juliane; Peters, Ulrich (Hg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt. Hamburg, S. 117-138.
Krolzik-Matthei, Kathja (2015): § 218: Feministische Perspektiven auf die Abtreibungsdebatte in Deutschland. Münster.
Radio Corax (2020) Politische Organisation von Frauen* nach 1945 (Interview mit Gisela Notz). In: Rosa Luxemburg Stiftung, 05.06.2020. URL: https://www.rosalux.de/mediathek/media/element/1287 (Zugriff am: 28.02.2021).
Sanders, Eike; Jentsch, Ulli; Hansen, Felix (2014): »Deutschland treibt sich ab«: Organisierter ›Lebensschutz‹ christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus. Münster.
Zellmer, Elisabeth (2011): Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München. München.
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