GESCHLECHTERSENSIBLE JUNGEN*ARBEIT

Beziehungs-Weise Jungen*arbeit?!
Von den Leitlinien in die Praxis

Vorstellungen von Geschlecht und Männlichkeit verändern sich – nicht zuletzt durch jahrzehntelange feministische Kämpfe gegen traditionelle Rollenbilder, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts in ihrem Denken und Handeln einschränken. Dieser Wandel stellt auch die pädagogische Arbeit mit Jungen* und jungen Männern* vor neue Herausforderungen. Dieser Ausstellungsraum zeichnet nach, wie jungen*pädagogische Sozialarbeiter und andere Expert*innen in München ihre Vorstellungen einer emanzipatorischen Beziehungsarbeit dabei entlang verbindlicher Leitlinien berichten und verorten.

Felix Gaillinger

Vor den Leitlinien und der Praxis – Der gesetzliche Auftrag

Geschlechtersensible Jugendarbeit wird durch die Vorgaben des Sozialgesetzbuchs (SGB) gerahmt. Damit einher geht auch die Definition der Zuständigkeit in der Gestaltung von Angeboten, die die Gleichberechtigung von Jungen* und Mädchen* befördern sollen.

Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBI. I S. 1163)
§ 79 Gesamtverantwortung, Grundausstattung

(1) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben für die Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung.

(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen gewährleisten, dass zur Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch

1. die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen den verschiedenen Grundrichtungen der Erziehung entsprechend rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen; hierzu zählen insbesondere auch Pfleger, Vormünder und Pflegepersonen;

2. eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung nach Maßgabe von § 79a erfolgt.

Von den für die Jugendhilfe bereitgestellten Mitteln haben sie einen angemessenen Anteil für die Jugendarbeit zu verwenden.

(3) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben für eine ausreichende Ausstattung der Jugendämter und der Landesjugendämter zu sorgen; hierzu gehört auch eine dem Bedarf entsprechende Zahl von Fachkräften.

Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBI. I S. 1163) 
§ 9 Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen

Bei der Ausgestaltung von Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind

1. die von den Personenberechtigten bestimmte Grundrichtung der Erziehung sowie die Rechte der Personensorgeberechtigten und des Kindes oder des Jugendlichen bei der Bestimmung der religiösen Erziehung zu beachten,

2. die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln sowie die jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien zu berücksichtigen,

3. unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern.

Warum Leitlinien für die Arbeit mit Jungen* und jungen Männern*?

Entlang dieser gesetzlichen Vorgaben begannen 1999 sechs Männer* in München, Leitlinien zur Jungen*arbeit zu gestalten. Sie alle stammten – wie es in einer Sitzungsvorlage des Sozialreferats vom 08.11.2005 heißt – aus sehr heterogenen Kontexten. Im Laufe des Entstehungsprozesses wurden immer mehr Personen und Einrichtungen in die Entwicklung involviert, wie im Vorwort der Leitlinien betont wird:

»Danken möchte ich an erster Stelle den Männern, die sich von Anfang an auf diesen langen Weg gemacht haben: Den Mitarbeitern des Stadtjugendamtes […], die die Federführung hatten; […] den Kollegen der Arbeitsgruppe Leitlinien, die sich trotz personeller Wechsel nicht aus der Bahn werfen ließen […]. Mein Dank gilt aber auch dem Münchner Fachforum für Mädchenarbeit und der Gleichstellungsstelle der Landeshauptstadt München. Beide haben sich von Anfang an sehr stark für die Leitlinien eingesetzt, haben diesen Prozess kritisch, immer aber auch produktiv begleitet und haben letztendlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Ziele, die wir für die Jungen umsetzen wollten, sich gut mit den Zielen für die Mädchenarbeit ergänzen.«

Sechs Jahre lang dauerte es, bis man sich auf die wenige Seiten langen Leitlinien einigen konnte. Die 2005 veröffentlichten und seitdem nicht mehr aktualisierten Leitlinien sind für jungen*pädagogische Projekte der freien Trägerschaften und der Jugendhilfe in München verpflichtend. Sie dienen dazu, eigene Konzepte zu entwickeln und sollen dabei helfen, Jungen*arbeit zu definieren, anzuerkennen und damit auch förderwürdig zu machen.

Was ist eigentlich Jungen*arbeit?

Die Leitlinien verstehen Jungen*arbeit als »bewusste, geschlechterbezogene pädagogische Arbeit eines Mannes oder mehrerer Männer mit Jungen« und berufen sich dabei auf den Geschlechterforscher Rainhard Winter, der selbst einige pädagogische Grundlagentexte zur Jungen*- und Männer*arbeit veröffentlicht hat. Mit ihm wurde diese Definition 1995 im Rahmen eines Seminars zur Standortbestimmung der Jungen*arbeit in München erarbeitet. Dabei greifen sie immer wieder auf feministische Theorie zurück, wenn sie zum Beispiel auf Raewyn Connells Konzept der Hegemonialen Männlichkeit verweisen. Die Tatsache, dass die Leitlinien noch immer den seit einigen Jahren nicht mehr zutreffenden Namen Robert Connell verwenden, steht dabei emblematisch für bisher nicht vorgenommene Aktualisierungen, die sich durch die Leitlinien in ihrer Gesamtheit ziehen.

Jungen*arbeit wird in den Leitlinien explizit von anderen Settings geschlechtsbezogener pädagogischer Arbeit mit Jungen* abgegrenzt.

Die Leitlinien bezeichnen die Arbeit von Frauen* mit Jungen* lediglich als nicht-koedukativen Rahmen. Heute würde man wohl eher von Cross Work- oder Cross Gender-Ansätzen sprechen.

“Jungen

Jungen* und Männer*
>>> Jungen*arbeit
Jungen*und Mädchen* im gleichen Angebot
>>> Koedukativer Rahmen
Jungen* und Frauen* in getrennten Angeboten
>>> Nicht-koedukativer Rahmen

Auszüge aus den Leitlinien

Auszug 1

»Neue Vorstellungen von Männlichkeit gibt es nicht in der gleichen Verbindlichkeit wie dies bei den traditionellen Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit der Fall ist. Rollenerwartungen durch die Umwelt bedeuten immer auch eine Einschränkung und Bewertung der individuell erlebten Fähigkeiten. Einzelne passen sich an, indem sie eigene Fähigkeiten, die als nicht passend erlebt werden, einschränken oder ganz ablegen. Wenn ›Eigenes‹ nicht zum ›Erwarteten‹ passt, entsteht Verunsicherung.«

Auszug 2

»Eine besonders wichtige Rolle spielen (in diesem Zusammenhang) erleb- und erfahrbare Männer in Kontakt mit Jungen. Obwohl zunehmendes positives Engagement von Männern zu verzeichnen ist, bleibt ein wichtiges Problem im Entwicklungsprozess der Jungen die häufige Abwesenheit von real erfahrbaren Männern.«

Auszug 3

»Findet die Geschlechtersozialisation von Jungen im Alltag ohne Vorbilder von realen Männern statt, können starre oder idealisierte Rollenvorstellungen von Männlichkeit nicht auf ein authentisches und realistisches Maß gebracht werden.«

Auszug 4

»Die unterschiedliche Präsenz und Wahrnehmung von Männern und Frauen, von Jungen und Mädchen vermittelt den Jungen widersprüchliche Botschaften und Rollenzuweisungen.«

Auszug 5

»Jungen finden sich in Spannungsverhältnissen zwischen Stärke und Schwäche, ›Probleme haben‹ und ›Probleme machen‹ und zwischen Opfer- und Tätersein wieder.«

Auszug 6

»Übergeordnete Ziele: Orientierung bieten für alle, die pädagogisch mit Jungen arbeiten. Politisch auf Geschlechterdemokratie hinwirken und die Gleichberechtigung von heterosexuellen und homosexuellen Orientierungen zu fördern (Abbau von Dominanzverhalten). Lebenslagen und Bedürfnisse in allen Bereichen der Arbeit mit Jungen aufgreifen und diese Arbeit im Sinne der handlungsbezogenen Ziele gestalten.«

Fragen an die Münchner Jungen*arbeit

Wie erzählen jungen*pädagogische Akteur*innen den sechs Jahre langen Entstehungsprozess der Leitlinien?

Wie betrachten sie ihn heute, über 15 Jahre nach der Veröffentlichung?

Wie werden die definierten Ansprüche in die Praxis umgesetzt?

Welche Gültigkeit haben die Ansprüche der Leitlinien für die heutigen Jungen*pädagogen und Expert*innen?

Wie werden die emanzipatorischen Ziele in einem geschlechterhomogenen Raum – also einem Raum nur mit Jungen* und Männern* – verfolgt?

Warum verwende ich das Gendersternchen?

Die Mehrheit der Personen, die ich im Rahmen meiner Forschung begleiten durfte, verwenden auf ihren Homepages oder in ihren E-Mails an mich ein sogenanntes Gendersternchen (siehe: Sprache). Das bedeutet, dass sie nach Wörtern wie »Junge« oder »Mann« einen Asterisk (*) setzen. Sie betonen damit, dass Geschlecht konstruiert ist, also von gesellschaftlichen und sozialen Umständen beeinflusst, aber auch gewissermaßen durch ihre eigene pädagogische Praxis bearbeitbar wird. Ich habe mich in diesem Ausstellungsraum dafür entschieden, die Verwendungsweise der Forschungspartner*innen zu spiegeln. In den Leitlinien von 2005 hingegen wird das Gendersternchen nicht verwendet.

Perspektiven auf Jungen*arbeit

Im Rahmen meiner Forschung habe ich sechs Jungen*arbeiter und Expert*innen der Münchner Stadtlandschaft kennengelernt. Manche von ihnen waren in die Entwicklung und Gestaltung der Leitlinien für die Arbeit mit Jungen* und jungen Männern* involviert. Andere sind und waren selbst jungen*pädagogisch aktiv und entwickeln – teilweise – entlang dieser verbindlichen Leitlinien ihre eigenen jungen*pädagogischen Projekte.

Vagheit als Chance? Einblicke in die Entstehung der Leitlinien

Die Leitlinien werden als ein Kompromissprodukt erzählt. Einige ihrer Inhalte sind vieldeutig und unscharf formuliert. Was bedeutet es zum Beispiel, ein »authentischer« Mann zu sein? Was meint ein »realistisches« Maß an Männlichkeit? Wie sollen die Jungen*arbeiter ihre Authentizität ausleben? An welcher Realität orientiert sich dieses Maß an Männlichkeit? Die jahrelange und intensive Entwicklung der Leitlinien war mit Uneinigkeiten verbunden. Die Interviewpartner*innen verweisen dabei vor allem auf die verschiedenen biographischen und politischen Hintergründe, die bei der Gestaltung der Leitlinien, aber auch in der eigenen jungen*pädagogischen Arbeit zum Tragen kommen. Durch verschiedene Zugänge und entsprechende Ansprüche seien die Leitlinien, so Andreas Schmiedel, der gemeinsam mit Hartmut Kick in die Leitlinienarbeit involviert war, letztlich solange entschärft worden, bis sich niemand mehr daran geschnitten habe. Gleichzeitig wird diese Vagheit in den verbindlichen Leitlinien als Chance und Möglichkeit verstanden, Reflexionsprozesse seitens der Jungen*arbeiter zu motivieren. Mit ihrer Verbindlichkeit, so die innere Logik, geht auch die Verbindlichkeit einher, sich in einer bestimmten Art und Weise zu positionieren.

Verwässerte Leitlinien

Verwässerte Leitlinien

Das Politische der Leitlinien? Mädchen*arbeit als Vorbild

Die Leitlinien für die Arbeit mit Jungen* und jungen Männern* sind aus dem Vorbild der Mädchen*arbeit entstanden, für die es in München schon seit 1999 Leitlinien gab. Die Mädchen*arbeit selbst ist aus der Frauenbewegung entstanden. Die Jungen*arbeit hingegen ist nicht direkt aus einer politischen Bewegung entstanden.

Die Leitlinien selbst sind nichtsdestotrotz ein höchst politisches Produkt (siehe: Politische Praxis). Das merkte auch Elena Golfidis, die fast 13 Jahre lang für das Münchner Fachforum für Mädchen*arbeit in der Fachstelle für Querschnittsaufgaben (GIBS) des Stadtjugendamts aktiv war. Ihrer Erfahrung nach gab es in dieser Zeit fast immer eine Mädchen*beauftragte und über lange Strecken hinweg keinen Jungen*beauftragten. Aktuell sind beide Stellen der Landeshauptstadt München nicht besetzt. Elena Golfidis hat mit ihren Kolleg*innen versucht, die Leitlinien für Mädchen*arbeit anzupassen und zu aktualisieren:

»Und wir haben die dann aufwändigst überarbeitet. Wir waren ganz glücklich, ein tolles Ding zu haben, das zeitlich jetzt auch gut passen würde. Und dann haben wir erfahren: […] Man kann die nicht so mir nichts, dir nichts ändern, weil die vom Stadtrat abgesegnet worden sind. Das ist quasi ein Dokument. […] Man müsste das Ganze nochmal neu in den Stadtrat bringen und auf Verabschiedung hoffen. Und da wir zu dem Zeitpunkt auch nicht sicher waren, wie der sich nach der Wahl gestalten würde, und man dann ja auch nicht sicher sein konnte, ob der dann eine Mehrheit bekommt, haben wir gesagt, okay, das ist zu gefährlich. Alles zurück.« Elena Golfidis

Stadtpolitische Diskussionen haben also einen zentralen Einfluss auf die Gestaltbarkeit der Leitlinien, die im Anschluss für die Jugendarbeiter*innen in ganz München verbindlich werden. Insgesamt zeigen sich die Interviewten resigniert über die aktuellen Entwicklungen. Es fehle die Anerkennung der Jungen*arbeit von Seiten der Landeshauptstadt München. Man wünsche sich eine stärkere finanzielle Unterstützung und das Schaffen von Schutzräumen (siehe: Safe Space), die sich explizit an Jungen* und junge Männer* richten. Dafür sensibilisierte 2013 auch die Fraktion Die Grünen-Rosa Liste in ihrem Antrag mit dem Appell »Jungenarbeit als Bereich der Jugendarbeit in München aufbauen!«

(Dis-) Order From Noise?! (1)

Andreas Schmiedel (Münchner Informationszentrum für Männer): »Es hatte eine innere Logik, dass es Leitlinien brauchte. Ganz pragmatisch, um für bestimmte Sachen Geld kriegen zu können […], aber auch, um nicht irgendjemandem, der jetzt mit den Burschen einfach Fußball spielt, sozusagen das durchgehen zu lassen, das wäre Jungen*arbeit. Wir wollten also eine Absicherung. Und Wenn ein Haus 90 Prozent männliche Besucher hat, dann findet da drin eben keine Jungen*arbeit statt, auch wenn das Haus überwiegend von männlichen Besuchern genutzt wird. Wir wollten diese scharfe Abgrenzung herkriegen und wir wollten damit auch den pädagogischen und gesellschaftlichen Auftrag erfüllen.«

Interviewer: »Finden Sie diese scharfe Abgrenzung in den Leitlinien, die dann daraus entstanden sind, gelungen?«

Andreas Schmiedel (Münchner Informationszentrum für Männer): »Nö.«

Was bedeuten diese Leitlinien also letzten Endes für die Praxis?

Authentisch sein – Beziehungen aufbauen

In der Jungen*arbeit spielt für die interviewten Praktiker die Beziehungsarbeit eine zentrale Rolle. Sie soll eine Aushandlung verschiedener Vorstellungen von Geschlechterrollen und Männlichkeiten ermöglichen. Die Beziehungsarbeit muss dabei zunächst gar nicht unbedingt inhaltlich (»qualitativ«) sein. Die Jungen*arbeiter versuchen vielmehr, eine »Connection« zu den Jungen aufzubauen, um die Basis für die inhaltliche Arbeit zu schaffen. Als Beispiele wurden das gemeinsame Fußballspiel, das »Zocken« vor der Spielekonsole oder das Erfrischungsgetränk mit anschließendem Small Talk an der Theke der Einrichtung genannt.

Dabei spielt Authentizität, die bereits in den Leitlinien benannt wurde, auch für die Jungen*arbeiter eine zentrale Rolle. Authentisch zu sein bedeutet für sie zunächst einmal, sich in einer gewissen Art und Weise zu positionieren, was noch vor der expliziten Diskussion von Geschlechterrollen eine große Rolle spiele. Authentizität verstehen sie als Voraussetzung, um in der Beziehungsarbeit überhaupt eine Verbindung zu den Jungen* aufzubauen, mit denen sie arbeiten. Man(n) wird demnach authentisch in der Art und Weise, wie man mit dem eigenen Mann-Sein umgeht. Der Jungen*arbeiter macht sich dadurch selbst zum Teil eines Raumes der Binnenrelationen, die somit nicht ausschließlich zwischen Jungen* stattfinden, sondern einen weiteren Bezugspunkt erhalten. (2) Auf diese Weise kommt es zu einer Ent-Hiercharisierung zwischen Jungen* und Jungen*arbeitern. Es geht nicht darum, als Jungen*arbeiter den Jungen* von außen zu einer bestimmten Form der Männlichkeit zu drängen, sondern in einen geschlechterhomogenen Raum zu treten, der es allen Seiten ermöglicht, sich und die eigene Männlichkeit in ein gegenseitiges Verhältnis zu setzen.

»Von vornherein muss klar sein, der [Riccardo] wird mir übers Maul fahren, wenn ich irgendeine sexistische Kacke sage. Andererseits wissen sie [die Jungen*] aber auch, wenn ich zum Beispiel mal über meine Gefühle reden möchte oder so, werde ich definitiv jemand sein, der das auch macht, weil ich auch kein Problem habe, mich zwischen 15 Leute zu stellen und denen zu sagen: So, hey man, mir geht‘s gerade auch nicht gut so, weil mein Privatleben fickt halt grad mein Kopf und so. Also quasi nicht nur zu erzählen, das macht es nicht so… sondern es auch vorzuleben.« Riccardo, KJR München Stadt

Männlichkeit als Verbundenheit – Parteilich sein in Rollenkonflikten

Authentizität erzählen die verschiedenen Jungen*arbeitenden als Grundvoraussetzung der Beziehungsarbeit. Sie habe aber noch nicht die nötige Kraft, qualitativ an den Geschlechterrollen und Männlichkeitsbildern der Jungen* und jungen Männern* zu rütteln. Die Interviewpartner*innen wünschen sich vielmehr Rollenkonflikte zur Geschlechtsidentität, die es den Jungen* ermöglichen, sich in verschiedenen Formen des Mann-Seins auszuprobieren und zu verorten. Die erfolgreiche, weil authentische Beziehungsarbeit ist stattdessen zunächst einmal die Bedingung, solche Konflikte im geschlechterhomogenen Raum offen auszuleben und auszuhalten.

Die Jungen*arbeiter provozieren und bearbeiten Konflikte auf eine je eigene Weise. Einer zentralen Rolle kommt die Parteilichkeit (siehe: Solidarität) zwischen Jungen* und Jungen*arbeitern zu. Diese Form der Parteilichkeit kann dabei im Spannungsfeld zwischen »Probleme haben« und »Probleme machen«, das in den Leitlinien thematisiert wird, als Ressource dienen. Mit Parteilichkeit ist eine regulatorische Wertschätzung gemeint: Wenn das Gegenüber sich respektiert und wertgeschätzt fühlt, wird es die jungen*pädagogischen Angebote eher wahrnehmen und sich für einen Austausch öffnen. Ist dieser parteiliche Raum qua Mann-Sein erst einmal geschaffen, kann die Parteilichkeit jedoch auch in gewissen Momenten entzogen werden, um eine konkrete Aushandlung der Rollenkonflikte zu ermöglichen.

Wann, wie und wie lange die Jungen*arbeiter parteilich sind, entscheiden sie nach individuellem Ermessen. Das kann bedeuten, dass Äußerungen im Raum stehen gelassen werden, die Teil einer nicht erwünschten Form der Männlichkeit sind. Um den Rollenkonflikt überhaupt bearbeitbar zu machen, sind Jungen*arbeiter teilweise auch im Rollenkonflikt selbst parteilich, wenn die Jungen* eine eigentlich abzulehnende Position einnehmen. Dabei spielt die Schutzraummetapher (siehe: Safe Space) eine zentrale Rolle.

Parteilichkeit bei Grenzüberschreitung – Die Heroes

»Dass wir sagen, wenn wir da vorne vor die Schulklasse einen Jungen hinstellen, mit Migrationszuschreibung jetzt zum Beispiel… Da stellt sich einer hin mit unseren Heroes-Pullovern. Das ist der… weiß ich nicht… Der Murat zum Beispiel. Und der hat einen Vollbart. Und diese Heroes-Jacke. Er stellt sich vor die Klasse und sagt: Ja, ich bin der Murat. Ich bin hier bei Heroes in meiner Freizeit und ich setze mich hier für Gleichberechtigung ein. Dann hat das eine besondere Wirkung, dann hat es eine ganz besondere Kraft. Und es wäre anders, wie wenn sich jetzt eine Julia da vorne hinstellen würde vor eine Schulklasse. Sagen wir mal neunte Klasse Mittelschule und sagt: Ich bin Julia. Ich setz mich hier für Gleichberechtigung ein. Ich sag jetzt nicht, dass es vielleicht schlechter wäre, aber es wäre anders. Und wir arbeiten bei Heroes halt quasi mit dem Murat, mit dieser Kraft, die das entfaltet.« Christian Borchart, Heroes München

Für meine Forschung habe ich die Heroes (AWO München) kennengelernt. Christian Borchart leitet dort als Jungen*arbeiter eine Gruppe, in der Jungen* und junge Männer* zu »Heroes« ausgebildet werden, um dann an Schulen eigene Workshops für Jungen* und Mädchen* zum Thema Gleichberechtigung zu geben. Suleman wiederum ist selbst langjähriger Heroe und gibt seit Abschluss seiner neunmonatigen Ausbildung zum Heroe eben solche Workshops. Nach Abschluss seiner Ausbildung hat Suleman, genau wie alle anderen erfolgreich ausgebildeten Jungen*, einen Heroe-Hoodie als Markenzeichen überreicht bekommen. Alle Heroes, so Borchart, haben »einen Migrationshintergrund«. In seinem Interview hat er mir erzählt, wie er mit Konflikten in der Ausbildung umgeht, die überwiegend aus geschlossenen Diskussionsrunden zwischen den Jungen* besteht, in denen sie darüber hinaus lernen, sich in verschiedene Rollen hineinzuversetzen.

Er sagt, man müsse parteilich sein, indem man die Jungen* anerkennt und wertschätzt, um ihnen zu helfen, sich zu öffnen und eigentliche Tabuthemen zu besprechen. Die Offenheit in der Diskussion ist für ihn ein zentrales Moment: Es wird auch dann nicht vehement widersprochen, wenn sich ein Junge* beispielsweise sexistisch oder homophob äußert. Man(n) positioniert sich vielmehr klar dagegen und bezieht eine konkrete eigene Stellung. Es würde hier der sogenannte »Schutzraum« (siehe: Safe Space) bewusst eingetauscht, um den »Täter« und »Aggressor« zu erreichen.

Parteilichkeit entziehen – Jungen*arbeit in einem Jugendzentrum des KJR München Stadt

Riccardo ist derzeit Jungen*beauftragter eines Jugendzentrums des KJR München Stadt. Auch in seinem Handeln spielt Parteilichkeit (siehe: Solidarität) eine Rolle, wenn er merkt, dass eine beispielsweise sexistische Äußerung nicht bewusst abwertend getätigt wird, sondern aufgrund einer entsprechenden Sozialisation. Sexismus wird dabei eher als ein modifizierbarer und dadurch zu bearbeitender »Bewältigungsmechanismus von Männlichkeitsanforderungen« (2) verstanden. Nichtsdestotrotz kommt es für ihn nicht in Frage, lediglich seine eigene Haltung gegenüberzustellen und die Äußerungen des Gegenübers zu respektieren.

»Ein großer Teil davon ist in meinem Alltag tatsächlich, bei jeder sexistischen, homophoben… Ich nehme jetzt mal nur darauf Bezug, nicht auf den Rassismus und so weiter… Aussage zu intervenieren. Das heißt, egal welches Schimpfwort es ist, ob‘s Fotze oder Schwuchtel oder keine Ahnung was ist, es wird jedes Mal draufgegangen. Das heißt, jedes Mal werde ich dazu sagen so: Hey! Und die wissen das mittlerweile schon. Es reicht mittlerweile, wenn ich irgendwie sag: Hey! Bei denen, die es nicht wissen, sage ich: Ey, so redest du hier drin nicht. Also das wär eher die Version für die Leute, wo ich sage okay, die wissen schon, was ich damit meine. Und bei denen, wo ich Sorge habe, dass sie nicht checken, was ich damit meine, von wegen: Hey, so redest du hier drin nicht! Denen werde ich sagen: »Hey, kannst du bitte hier nicht so reden? Wir sind ein Jugendzentrum, das für alle offen ist. Ich möchte nicht, dass du eine Sprache verwendest, die anderen Menschen das Gefühl gibt, dass sie abgewertet werden« Riccardo, KJR München Stadt

Dieser Entzug der Parteilichkeit kann nur deshalb funktionieren, weil zuvor bereits eine Beziehungsarbeit zwischen dem Jungen*arbeiter und den Jungen* aufgebaut wurde. Sagt Riccardo »Hey!«, dann wissen die Jungen*, worauf er hinaus möchte, ohne noch expliziter zu werden. Ihm ist es wichtig, als konsistentes und authentisches Vorbild zu agieren.

Gesichtswahrung – Anerkennung leben

»Als praktisches Beispiel nochmal: Ich habe viele häuserübergreifende und hausinterne Jungen*aktionen gemacht, also wirklich richtig viele. Und da hatten wir beim ersten Mal so eine erlebnispädagogische Geschichte, Abseilen an einer Steinwand. Einer von den Jungs geht an der Kante und kommt ins Kippen. Und in dem Moment, wo er wirklich im Kippen war, also wo der Kopf eben nach hinten so weit raus war, dass es dann runtergehen musste, kriegte er Angst und sagte: Stopp, doch nicht. Und dieser Vollpfosten von Erlebnispädagoge hat gesagt: Stell dich nicht so an und lässt das Seil nach. Da habe ich genau das Gegenteil von dem erlebt, worum es mir geht. In dem Moment, wo der sagt: Nein, ich will nicht, kommt er zurück. Wir tauschen uns aus. Gibt’s Möglichkeiten, dir das zu ermöglichen? Oder willst du die Grenze einfach beibehalten? Fehlt dir was, wenn du’s beibehältst oder was brauchst du, damit du diese Grenze sozusagen achtsam überschreiten kannst, aber auch bewusst und nicht, dass es dir passiert. Ich kann mit ein und derselben Aktion das komplette Gegenteil erreichen. Und die Leitlinien sollten Stütze oder Hintergrund sein, um das in die richtige – also richtige je nach Sicht – Richtung zu lenken.« Andreas Schmiedel, Münchner Informationszentrum für Männer

In den jungen*pädagogischen Maßnahmen spielt die Gesichtswahrung der Jungen* und jungen Männer* eine zentrale Rolle. Das bedeutet, dass das, was sie in diesen Maßnahmen sagen und tun, immer im Kontext zu dem steht, was in Anwesenheit anderer als anerkennenswert definiert wird. An Fragen der Anerkennung koppeln und binden sich unmittelbare Bedrohungsszenarien der je eigenen männlichen Souveränität, die aber gerade erst durch die Anwesenheit der Peer Group virulent werden. (2) Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in weiteren Maßnahmen wider, die Teil der alltäglichen Praxis der Jungen*arbeiter sind. Einige von ihnen erzählen beispielsweise vom Kochen und der Frage, wie man den Jungen* nun eigentlich zur Teilnahme motiviert, ohne dass sie gleichzeitig von anderen Jungen* missachtet werden, die das Kochen als »Frauenarbeit« ablehnen. Ein anderes Beispiel sind sogenannte »Haushaltsralleys«, in denen die Jungen* im Rahmen von Schnelligkeitswettbewerben Knöpfe annähen sollen oder Textilien zu bügeln haben. Auch hier geht es um die Frage nach der Anerkennungswürdigkeit dessen, was man macht. Die Jungen* sollen sich Aktivitäten nähern, die noch immer typische »Frauenaufgaben« seien. Der Wettbewerbscharakter dient hier als kompensatorisches Mittel, Anerkennung und male bonding zwischen den Teilnehmern herzustellen (2) und die Jungen* zu motivieren. Doch auch diese Situation ist ähnlich ambivalent wie das Kippen an der Kletterwand. Die Jungen*arbeiter laufen in der Einmaligkeit und Eventisierung dieser Maßnahme – dessen sind sie sich bewusst – die Gefahr, Klischees vielmehr zu reproduzieren. Außerdem, so könnte mit Verweis auf das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit gesagt werden, werden sportliche Erfolge hier als Männlichkeitsbeweise inszeniert, die sich durch den Wettbewerbscharakter herstellen, dem man sich nur durch Geschick und Kampf entziehen kann. (3) Das Scheitern des Jungen* in der durch den Jungen*arbeiter provozierten Situation wird zum Scheitern in Anbetracht vorherrschender Männlichkeitsdesiderate verargumentierbar und durch die Anwesenheit der Gleichberechtigtengruppe multipliziert.

Eine adäquatere Lösung, so manche von ihnen, sei das ritualisierte Kochen mit den Jungen*. Hier ließe sich, indem man nicht das Kochen selbst eventisiert, sondern gerade das gemeinsame Tischdecken, das Einkaufen und das Abräumen des Geschirrs ritualisiert, eine ganzheitliche Anerkennung herstellen und eine gleichzeitige Wettbewerbslogik um das Ringen des adäquaten Männlich-Seins entgehen. Man erreiche einen positiven emanzipatorischen Effekt, indem man nicht das Typisch-Frau-Sein des Kochens für einen Abend zelebriere und kennenlerne, sondern das Kochen als ritualisierte Praxis in ihrer Gesamtheit zum anzuerkennenden Alltag macht.

Feminismus! Aber nicht als Label

Die Interviewten verfolgen ein emanzipatorisches Anliegen. Dieses soll in erster Linie dadurch erreicht werden, dass man sich im geschlechterhomogenen Raum mit dem eigenen Mann- und Männlich-Sein beschäftigt. Hierfür versuchen die Leitlinien und die Erzählungen der Jungen*arbeiter, eine Rechtfertigungsgrundlage zu bilden. Es sollen Räume geschaffen werden, in denen die Jungen* und jungen Männer* »im Spannungsfeld zwischen Probleme haben und Probleme machen«, wie es in den Leitlinien heißt, die Möglichkeit haben, sich und die eigene Männlichkeit auszutesten und hin zu einem positiven und ressourcenorientierten Männlichkeitsbild zu formen, denn:

»Eine Veränderung für die Mädchen hängt damit zusammen, dass wir die Mädchen stärken, aber hängt natürlich auch damit zusammen, dass sie auf andere Männer treffen, die auch ein Stück weit ein neues Geschlechterbild in sich tragen.« Hartmut Kick, ehemaliger Jungen*beauftragter der Landeshauptstadt München

Die Praktiken und Strategien changieren dabei stets zwischen dem Bild einer potenziellen männlichen Täterschaft und der Notwendigkeit von Schutzräumen (siehe: Safe Space) zur freien Entfaltung jenseits gesellschaftlicher Erwartungshaltungen. Mann zu sein, bedeutet in diesen jungen*pädagogischen Rahmungen, ein Mann mit Fehlern sein zu dürfen, an denen man anschließend arbeiten kann. Nicht gewünschten Formen von Männlichkeit, denen feministische Kämpfe entschieden begegnen, wird durch eine situationsabhängige parteiliche und auf Authentizität fußende pädagogische Praxis begegnet, um offengelegt und bearbeitbar zu werden. Die Jungen*pädagogen sind sich dabei der Ambivalenz dieser Situation bewusst. Sie verstehen sich einerseits selbst als (pro-) feministische Arbeiter und haben sich feministisches Wissen angeeignet. Dennoch bezeichnen sie ihre Arbeit selbst nicht als feministisch.

»Der Feminismus als politische Bewegung hat einfach eine andere politische Schlagkraft. Und die Jungen- und Männerarbeit kann keine Bewegung sein, weil eine Bewegung als Wesensmerkmal die Aktion, also gegen die Unterdrückung hat. Im Patriarchat haben Jungs erst einmal nicht sozusagen die Unterdrückungsposition, sondern die Unterdrückerposition.« Andreas Schmiedel, Münchner Informationszentrum für Männer

Manche von ihnen wiederum betonen regelrecht, dass sie ihre Projekte nach außen hin nicht als feministisch bezeichnen aufgrund der Befürchtung, man schrecke dadurch die adressierten Jungen* und jungen Männer* eher ab. Es sei eine Errungenschaft, eigene Projekte geschaffen zu haben, die ausschließlich für Jungen* sind und das sei schließlich auch jenseits feministischer Desiderate Rechtfertigung genug:

»Also manchmal denke ich, ich muss auch gar nicht mehr sagen […]. Ich finde es auch wichtig, dass man das akzeptieren kann, dass es ein Projekt nur für Jungs gibt. Also jetzt gerade für mich. Also als parteilicher Jungen*arbeiter finde ich das auch eigentlich Grund genug, allein zu sagen, es ist einfach ein Jungs*projekt. Punkt.« Christian Borchart, Heroes München
Literatur
(1) Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt.
(2): Stuve, Olaf / Debus, Katharina (2012): Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In: Dissens e.V. / Debus, Katharina / Könnecke, Bernhard / Schwerma, Klaus / Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin, S. 43-60.
(3): Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden.
Bildquellen
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