Kämpfe von Frauen mit Behinderungen
Mitten in der Gesellschaft
…diesen Platz müssen sich Frauen mit Behinderungen oft noch erkämpfen. Wie sie sich selbst sichtbar machen, welche Barrieren sie in ihrem Alltag einschränken und wie diese abgeschafft werden sollen, zeigt dieser Ausstellungsraum am Beispiel des »Netzwerks von und für Frauen und Mädchen mit Behinderung in Bayern« (kurz: Netzwerkfrauen-Bayern).
Elena Zendler
Vernetzen, Verbinden, Zusammenführen
Frauen mit Behinderungen haben häufig mit einer doppelten Diskriminierung zu kämpfen – einerseits aufgrund ihres Geschlechts, andererseits aufgrund der Behinderung. Die Netzwerkfrauen-Bayern – oder kurz »das Netzwerk« – setzen sich seit ihrer Gründung im Jahr 1999 gemeinsam dafür ein, die Situation von Frauen und Mädchen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zu verbessern.
Das wichtigste Ziel der Netzwerkfrauen-Bayern ist es, dass Mädchen und Frauen trotz ihrer Behinderungen ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes Leben führen können. Um dies zu erreichen, setzt das Netzwerk auf Beratung, Erfahrungsaustausch, politische Arbeit und Bewusstseinsbildung.
Die Netzwerkfrauen vernetzen alle interessierten Mädchen und Frauen miteinander, denn jedes Mädchen und jede Frau mit Behinderung oder chronischer Erkrankung kann Teil des Netzwerks werden und nach ihren Möglichkeiten helfen, die Ziele zu erreichen (siehe: Organisierung).
Die von allen Netzwerkfrauen gewählten Sprecherinnen setzen sich in Gremien und Arbeitskreisen für bestimmte Themen – wie beispielsweise die Barrierefreie Gynäkologie – ein, das Team des Netzwerkbüros unterstützt die Sprecherinnen. Sie stehen zudem als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung. Die Netzwerkfrauen tauschen sich über Themen aus allen Lebensbereichen aus, beraten, stellen Kontakte her (siehe: Solidarität). Sie helfen sich gegenseitig nach dem Peer-to-Peer-Prinzip – das bedeutet Frauen mit Behinderungen unterstützen Frauen mit Behinderungen.
Frauen für Frauen
Die Netzwerkfrauen sind nach ihrem Selbstverständnis kein explizit feministischer Verein. Trotzdem ist es ein Zusammenschluss von Frauen für Frauen. Gleichberechtigung stellt ein zentrales Ziel dar. Auf die Frage, was Feminismus für sie bedeutet, antworteten interviewte Netzwerkfrauen folgendes:
»Also erst mal bedeutet Feminismus für uns[…] wahrscheinlich ähnliche Dinge wie für Frauen ohne Behinderung. Nämlich […] unsere eigenen Rechte erst mal kennenlernen und dann auch umsetzen und da, wo sie uns noch nicht zugesprochen werden, dann eben auch erkämpfen, damit wir als Frauen gleichberechtigt in der Gesellschaft leben können.«
Dunja Robin – Leiterin der Netzwerkfrauen-Bayern
»Wenn man jetzt eine Frau mit Behinderung ist, dann muss man an zwei verschiedenen Fronten kämpfen. […] Also man hat bestimmte Nachteile oder eben erst ganz frisch eroberte Freiheiten als Frau. […] gleichzeitig muss man sich eben dann auch noch verschiedene Freiheiten oder Freiräume erkämpfen, die man dann eben hat aufgrund der Behinderung.«
Helen Groß – Netzwerkfrau
»Für mich bedeutet Feminismus […], dass ich mich als Frau fühle und nicht als behindertes Neutrum. […] Und dass Frauen mit oder ohne Behinderung einfach auch Berufe ausüben können, die sie wollen und nicht nach diesem Frauen-und-Männer-Klischee […].«
Esther Junghanns – Netzwerkfrau, ehemalige Peer-Beraterin der Netzwerkfrauen-Bayern
»Feminismus bedeutet für mich einfach […] sich noch mehr […] stark zu machen. Und […] dass sich die Gesellschaft noch mehr damit beschäftigt. Also das ist für mich auch der Grund, dass ich gesagt habe: Ich will mich als Frauenbeauftragte aufstellen lassen! Ich will mich für meine Frauen stark machen!«
Susanne Böhm – Peer-Beraterin der Netzwerkfrauen-Bayern
>>>>> Weg mit den Barrieren <<<<<<
Barrieren – Helen Gross
»Es beginnt ja auch oft gar nicht erst vor der Tür. Wo dann vielleicht eine Treppe oder kein Aufzug vorhanden [ist], sondern das beginnt ja eigentlich schon, wenn die Frau mit Behinderung ihre eigene Wohnung verlässt und sich dann zum ersten Mal eben die Frage stellt: Wie komm ich eigentlich dahin, wo ich hin möchte?« Dunja Robin
Schlechte Anbindungen des öffentlichen Nahverkehrs, kaputte Aufzüge, steile Rampen, fehlende Blindenleitsysteme oder fehlende Dolmetscher*innen für Gebärdensprache. Das alles sind Barrieren. Diese stellen große Probleme dar, die Menschen mit Behinderungen daran hindern, am öffentlichen Leben uneingeschränkt teilnehmen zu können. Oftmals werden sie von nicht betroffenen Menschen gar nicht wahrgenommen. Einerseits ist es daher wichtig, dass betroffene Frauen als Expertinnen selbst die Möglichkeit haben, auf diese Barrieren hinzuweisen. Andererseits sind es eben jene Barrieren, die die Frauen davon abhalten, sich überhaupt einbringen zu können.
Um diesen Teufelskreis durchbrechen zu können, ist eine Sensibilisierung der Menschen ohne Behinderung von Nöten. Diese sollte – wie die Netzwerkfrau Helen Groß in ihrer Masterarbeit mit dem Titel »Inklusion in der Schule: Eine Fragebogenstudie zur Einstellung von Schülern mit und ohne Behinderung« herausarbeitete – am besten schon in der Kindheit stattfinden.
Der frühzeitige Kontakt zwischen Kindern mit und ohne Behinderung ist förderlich für die Inklusion – also die gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft – und das Knüpfen von Beziehungen. Bestehen Kontakte, können auch Barrieren besser erkannt und abgeschafft werden. Zudem können sie helfen, dass neue Barrieren gar nicht erst entstehen. Die Netzwerkfrauen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Barrieren aufzuzeigen und sich in Gremien dafür einzusetzen, diese abzuschaffen. Hier zu nennen ist beispielsweise das Netzwerk-Projekt »Gynäkologische Ambulanz für Frauen mit Behinderungen«. Auch andere Aktionen wie »Auf Herz und Rampen prüfen!« sind dafür dienlich. Hier können Schüler*innen beispielsweise ihre Schulgebäude im Rollstuhl oder mit verbundenen Augen auf Barrieren überprüfen. Gefundene Barrieren werden anschließend an dafür zuständige Stellen weitergeleitet.
»Meine Fragebogenstudie gibt deutliche Hinweise darauf, dass Schüler mit und ohne Behinderung der Inklusion und dem Thema Behinderung offen gegenüberstehen. Auch verdeutlichte sich in dieser Arbeit, dass Kontakt zwischen Schülern mit und ohne Behinderung ein wichtiger Aspekt für das Gelingen der Inklusion ist. Es ist bedauerlich, wenn die Offenheit der Schüler gegenüber Inklusion aufgrund politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht genutzt werden kann. Deshalb fordere ich alle dazu auf, sich für Inklusion und das Thema Behinderung einzusetzen. Wir alle können von der daraus entstehenden Vielfalt profitieren.« Helen Groß in ihrer Masterarbeit (Groß, 2019: 83)
Frauen mit Behinderung in die Öffentlichkeit!
Um sich und die Barrieren und Hürden mit denen Frauen und Mädchen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu kämpfen haben, sichtbar machen zu können, müssen sie sich an die Öffentlichkeit wenden.
Dies geschieht bei den Netzwerkfrauen zum einen durch Internetauftritte in den sozialen Medien – sie betreiben eine Facebook-Seite und einen YouTube-Kanal. Auch gibt es auf ihrer Internetseite einen Blog, in dem über wichtige Themen informiert wird, beispielsweise in dem Wochenrückblick. Im Jahr 2020 und 2021– zu Zeiten einer Pandemie – ist digitale Präsenz wichtiger als je zuvor, um zu informieren und zu vernetzen.
Während zu Zeiten der Corona-Pandemie vieles digital stattfindet, organisieren die Netzwerkfrauen normalerweise selbst Veranstaltungen zu frauenspezifischen Themen. Dort können sich Frauen austauschen, Kontakte knüpfen und vernetzen. Sie nehmen auch an öffentlichen Aktionen, wie sie zum Beispiel am Weltfrauentag stattfinden, teil, um sich dort öffentlich zu zeigen, zu sprechen und zu unterstützen.
Die Netzwerkfrauen setzen sich mit ihren öffentlichen Auftritten für einen Intersektionellen Feminismus ein (siehe: Intersektionalität). Sie zeigen auf, dass die Wünsche und Forderungen von Mädchen und Frauen mit Behinderungen ernst genommen werden und umgesetzt werden müssen, damit sie uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
»Indem wir dort auch auf der Bühne stehen und Reden halten oder an Projekten wie einem Fotoprojekt teilnehmen und einfach auch allgemein versuchen, an der feministischen Bewegung in all ihren verschiedenen Aktionen mitzuwirken und teilzunehmen. Eben auch als Frauen mit besonderen Merkmalen […] Genauso sehen wir uns auch als zugehörig und denken: Wir tragen unseren Beitrag dazu bei, dass der Feminismus intersektionell glücken kann.« Dunja Robin
Das Netzwerk als geschützter Raum
Die Netzwerkfrauen unterstützen sich gegenseitig in allen Lebensbereichen, helfen bei ernsten Themen – wie Schwierigkeiten, die bei Behördengängen auftreten können – sprechen aber auch über Hobbies und Freizeit. Durch dieses gegenseitige Empowerment werden die Frauen in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und unterstützt.
»[Du] kriegst so viel […] Wertschätzung. Also wenn ich mal mit schlechter Laune ins Netzwerk komme […], dann komme ich ins Netzwerk und […] dann wird da kurz 5 Minuten drüber geredet und dann bin ich in einer ganz anderen Welt, weil ich einfach für den Moment so gesehen werde, wie ich das brauche. Und das ist ´ne ganz tolle Leistung, was die da bringen.« Susanne Böhm
Das Netzwerk fungiert als Safe Space, in dem den Frauen individuell und bedürfnisorientiert auf Augenhöhe geholfen wird. Neben fachlich qualifizierter Beratung im Netzwerk-Büro, bieten Veranstaltungen und Treffen der Netzwerkfrauen auch die Möglichkeit, sich in einem geschützten Raum über persönliche Aspekte auszutauschen.
Susanne Böhm an ihrem Schreibtisch im Netzwerkbüro.
»[E]rfahren hab ich von den Netzwerkfrauen über eine sehr gute Freundin von mir, die selbst Gründungsfrau war. Die Tanja Miedl. Die kenne ich seit ich, ich glaub fünf Jahre alt war, und [wir] waren eben sehr eng befreundet. Und sie war eigentlich immer so meine Vorbildfrau. Sie war elf Jahre älter als ich. Das heißt, ich habe bei ihr gesehen, wie funktioniert das […] als behindertes Mädchen an der Schule, an der Hochschule, mit dem Berufseinstieg. Und da sie eben Gründungsfrau der Netzwerkfrauen war, hat sie mir dann auch immer erzählt von ihrer Arbeit und hat auch versucht, mich dafür zu begeistern, doch auch mitzuarbeiten bei den Netzwerk-Themen.«
Dunja Robin
»Dann kämpfe ich mich […] durch. […] Ich kann mich gut einschätzen und kann sagen: ›Leute, […] das kann ich durch meine Behinderung nicht!‹ Aber das Selbstbewusstsein hab ich eben durch meine super Familie mitbekommen.«
Susanne Böhm
»Und ich denk´ wir Netzwerkfrauen, […] wir stehen alle Mitten im Leben, wir […] gehen arbeiten, wir gehen in die Öffentlichkeit, wir haben Freunde mit und ohne Behinderungen.«
Esther Junghanns
Unterstützung und starke Vorbilder
Bei der Stärkung des Selbstbewusstseins und der Eigenständigkeit von Mädchen und Frauen mit Behinderungen spielt die Unterstützung von Familie und Freund*innen eine große Rolle.
Zudem wird betont, dass es wichtig ist, aufzuzeigen, dass eine Behinderung Mädchen und Frauen nicht davon abhält, ein erfülltes Leben zu führen. Neben der Unterstützung von Familie und Freund*innen übernimmt auch das Netzwerk eine wichtige Rolle, denn die Netzwerkfrauen können eine Art Vorbildfunktion übernehmen, um anderen Mut zu machen.
Durch die Frauen im Netzwerk wird deutlich, dass Mädchen und Frauen ihr Leben nicht von ihrer Behinderung bestimmen lassen müssen. Sie sollten diese vielmehr als Teil ihres Selbst akzeptieren und ihr Leben so gestalten, wie sie es für richtig halten, so die Auffassung der Netzwerkfrauen.
Diese Vorbildfunktion ist vor allem dann von großer Wichtigkeit, wenn ein Mädchen oder eine Frau keine Unterstützung durch das eigene engere Umfeld erfährt.
Beratung als Fundament für Aktivismus
Damit Mädchen und Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen uneingeschränkt am alltäglichen Leben teilnehmen können, ist es wichtig, ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich Rat und Hilfe holen zu können.
Beratung und Aufklärung über die eigenen Rechte bilden somit das Fundament auch für politischen Aktivismus (siehe: Politische Praxis).
Einige wichtige Themenfelder sind:
• Familienplanung und Elternassistenz
• Selbstakzeptanz
• Gewaltprävention
• Beziehung und Partner*innenschaft
• Medizinische Anliegen
• Politische Fragen
• Beruf und Ausbildung
Zwei wichtige Projekte, an denen die Netzwerkfrauen-Bayern arbeiten sind zudem: Das Projekt »Frauen-Beauftragte in Einrichtungen der Behinderten-Hilfe in Bayern« und Die Gynäkologische Ambulanz für Frauen mit Behinderungen
Beratung auf Augenhöhe – die Frauenbeauftragte in Einrichtungen
Wenn es am Arbeitsplatz zu Problemen kommt, wenn eine Frau diskriminiert oder belästigt wird, dann sind Frauenbeauftragte wichtige Ansprechpersonen, die die Frauen unterstützen und ihnen helfen. Da Frauen mit Behinderungen häufig sogar doppelt diskriminiert werden – weil sie Frauen sind und weil sie eine Behinderung haben – ist das Projekt »Frauen-Beauftragte in Einrichtungen der Behinderten-Hilfe in Bayern« der Netzwerkfrauen von großer Wichtigkeit, um Benachteiligung vorzubeugen.
Hierfür bot das Netzwerk Schulungen an, durch die Frauen mit Behinderungen die Möglichkeit bekamen, sich zu Frauenbeauftragten weiterbilden zu können. Gemeinsam mit einer Vertrauensperson, die die Frauen-Beauftragte unterstützt, arbeiten sie in Einrichtungen und Wohnheimen der Behindertenhilfe.
Die Wichtigkeit, dass Ansprechpartnerinnen für Frauen mit Behinderungen selbst Frauen mit Behinderungen sind, betont die Peer-Beraterin des Netzwerks, – Susanne Böhm. Sie arbeitet selbst als Frauenbeauftragte bei der Pfennigparade in München und legt Wert auf Beratung und Austausch auf Augenhöhe. Für viele Frauen ist dieser Austausch über Alltag und Arbeit unerlässlich. Auch Problemen kann so häufig frühzeitig entgegengewirkt werden.
»Was ich kann, kannst du vielleicht nicht. Ja, also das ist ja das, worauf es auch ankommt. Und diese Stärkung, wenn du jetzt das nicht kannst, dann kannst du aber was Anderes. […] Es ist ja ein Geben und Nehmen. Und da ist es eben das, was ich zum Beispiel in Beratungsstellen, wenn es nicht Behinderte machen, auch oft sehr, sehr schwer finde, weil sie sich oft nicht in uns reinversetzen können. […] Und unsere Aufgabe ist es ja, egal ob als Frauenbeauftragte oder Peer-Beraterin, den Menschen da abzuholen und ihn in seinen Fähigkeiten zu stärken […] Und deswegen mach ich den Job so wahnsinnig gern.« Susanne Böhm
Gynäkologische Versorgung für alle!
Bereits kurz nach der Eröffnung des Netzwerkbüros zeigte eine Umfrage, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen gravierend unterversorgt sind, wenn es um gynäkologische Betreuung geht.
Die allerwenigsten Praxen waren und sind barrierefrei, was dazu führt, dass viele Frauen mit Behinderungen sich nur selten oder gar nicht untersuchen lassen können. Ihre körperliche Selbstbestimmung ist damit zusätzlich beschnitten. Der Zugang zu Beratung in Bezug auf Sexualität oder auch Elternschaft ist zudem eingeschränkt.
Die Ergebnisse der Umfrage überraschten die Netzwerkfrauen nicht, generell sollte der Mangel an Barrierefreiheit in der gynäkologischen Versorgung jedoch auf Empörung stoßen. Schließlich sei eine Behinderung etwas, das jede Frau einmal betreffen könnte, wie die Leiterin der Netzwerkfrauen-Bayern Dunja Robin betont.
Ein Arbeitskreis der Netzwerkfrauen setzte sich daher für eine barrierefreie gynäkologische Ambulanz in Bayern ein. Diese eröffnete schließlich im Jahr 2007 in Dachau unter Leitung von Frau Prof. Dr. Gerlinde Debus.
Für viele Mädchen und Frauen mit Behinderungen war diese Praxis eine enorme Bereicherung. Nachdem Frau Dr. Debus in den Ruhestand ging, wurde die Praxis zwar noch bis Februar 2019 weitergeführt, seither (Stand Dezember 2020) gibt es jedoch im Süden Bayerns keine einzige speziell auf Barrierefreiheit ausgelegte gynäkologische Ambulanz. Die Landeshauptstadt München ist darum bemüht, eine Spezialambulanz zu eröffnen. Auch die Netzwerkfrauen setzen sich weiterhin dafür ein.
»[Es] geht hier auch nicht nur um das Thema Verhütung und Pille und Schwangerschaft und Geburt, sondern es geht ja tatsächlich auch um gesundheitliche Vorsorge[…] und wenn man jetzt Krankheitsbilder wie beispielsweise Krebs mit rein nimmt, im Grunde genommen auch ums Überleben.«
Dunja Robin
Checkliste für eine barrierefreie Gynäkologie
ο Ist die Anreise mit körperlicher Behinderung gut machbar?
ο Gibt es einen Aufzug?
ο Wird den Frauen individuell genügend Zeit für die Untersuchung eingeräumt?
ο Ist die Praxis für Rollstuhlfahrer*innen oder sehbehinderte Personen barrierefrei (Stufen, Türöffner, Toiletten, farbige Markierungen)?
ο Ist genügend Platz für eine Begleitperson?
ο Ist die Ausstattung behindertengerecht (zum Beispiel Lifter)?
ο Gelingt eine barrierefreie Kommunikation auf Augenhöhe?
ο Gibt es Broschüren in Blindenschrift?
ο Gibt es leicht verständliche Broschüren für Frauen mit Lernschwierigkeiten?
ο Ist spezielles Fachwissen vorhanden?
ο Besteht die Möglichkeit den Arzt/ die Ärztin zu wechseln, falls die Chemie nicht stimmt?
…
(Checkliste erstellt auf Grundlage des Interviews mit Dunja Robin)
Frauen vor Übergriffen schützen
Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind häufig von Gewalt betroffen. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigt, dass 50–60 % der befragten Frauen in Kindheit und Jugend psychische Gewalt durch ihre Eltern erlebten. 74%-90% der Frauen mit Behinderungen berichteten von körperlicher Gewalt durch die Eltern. mehr
Eine hohe Betroffenheit von Gewalt zeigt sich laut der Studie auch im Erwachsenenalter. 68% – 90% erfuhren als Erwachsene schon einmal psychische Gewalt. 58% – 75% haben physische Gewalt erfahren. Die Täter*innen sind auch bei Frauen mit Behinderungen überwiegend im unmittelbaren sozialen Nahraum von Partner*innenschaft und Familie zu finden.
Das Entkommen aus der häuslichen Gewalt gestaltet sich für Frauen mit Behinderungen oftmals besonders schwer, denn Zufluchtsorte wie Frauenhäuser sind häufig nicht barrierefrei. Auch besteht bei Müttern häufig die Sorge, dass im Falle einer Scheidung die Behinderungen gegen sie verwendet werden und sie das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren.
»[…] wenn man weiß, ich kann nicht in ein Frauenhaus gehen, die sind nicht für mich geeignet, dann klopf ich da natürlich auch gar nicht an die Tür bzw. ruf da nicht an. Entweder, im schlimmsten Fall, erdulden die Frauen dann die Gewalt weiter oder sie müssen sich irgendwie andere Alternativen suchen.« Dunja Robin
Um die Situation von Frauen mit Behinderungen in diesem Fall zu verbessern, ist es einerseits wichtig, dafür zu sorgen, dass Frauenhäuser und andere Einrichtungen für Frauen barrierefreier werden. Hierfür muss das Thema an die Öffentlichkeit getragen werden. Andererseits müssen die Frauen durch Hilfsangebote und Beratung unterstützt werden. Die Fachstelle für Gewaltprävention im Netzwerkbüro ist eine Anlaufstelle für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Dort erhalten sie unter anderem rechtliche Beratung und es kann Kontakt zu Hilfseinrichtungen hergestellt werden.
Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit soll zudem die Gesellschaft für die Gewaltproblematik sensibilisiert werden. Dafür hält die Fachreferentin für Gewaltprävention, Ümmahan Gräsle, Vorträge und wirkt an Projekten mit. Auch bei der Kampagne One Billion Rising, die sich gegen Gewalt gegen Frauen und für Gleichstellung einsetzt, macht sie regelmäßig auf die besonders hohe Gewaltbetroffenheit von Mädchen und Frauen mit Behinderungen aufmerksam.
Esther Junghanns auf dem Münchner Stachus. Dort berät sie bei einer öffentlichen Aktion und klärt auf.
Für das Recht auf Mutterschaft
Während von Frauen ohne Behinderungen scheinbar erwartet wird, Kinder bekommen zu wollen, wird dieser Wunsch Menschen – insbesondere Frauen – mit Behinderungen oftmals abgesprochen. Für Esther Junghanns, die als Peer-Beraterin bei den Netzwerk-Frauen arbeitete bevor sie aus Bayern wegzog, ist es »unglaublich wichtig, dass Frauen mit Behinderung […] ein Kind bekommen können und dürfen, wenn sie es denn wollen und wenn es gut geplant ist, wie das Kind am besten versorgt und betreut werden kann.« Dafür setzte sie sich bei den Netzwerkfrauen ein, indem sie (werdende) Mütter und Frauen mit Kinderwunsch beriet. Auch ist sie Mitbegründerin des Arbeitskreises »Mama mit Behinderung«. Bei öffentlichen Aktionen, wie beispielsweise am 5. Mai, – dem Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung – erklärt Esther Junghanns Interessierten, welche Hilfe es für Mütter mit Behinderungen gibt.
Brauchen Mütter mit Behinderungen Unterstützung, so können sie beispielsweise einen Antrag auf Elternassistenz stellen. Elternassistent*innen helfen bei der Betreuung des Kindes. Ein gutes Zusammenspiel zwischen Eltern und Assistenz ist hier das A und O, wie Esther Junghanns erklärt. Für Eltern mit Lernschwierigkeiten gibt es zudem die Möglichkeit der Betreuten Elternschaft.
Esther Junghanns betont die Wichtigkeit eines offeneren Umgangs mit dem Thema »Mutter mit Behinderung«. Denn neben der Tatsache, dass viele Frauen Hemmungen haben, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen – teilweise aus Angst, das Jugendamt könne ihnen dann die Kinder wegnehmen – gestaltet sich auch die Beantragung von Elternassistenz sehr kompliziert. Und würden sich Paare mit Behinderungen beispielsweise für das Thema Adoption interessieren, sei dies für das Jugendamt dem Anschein nach noch unvorstellbar. Wendet sich eine (werdende) Mutter an die Peer-Beratung im Netzwerk, wird Wert darauf gelegt, der Frau die Angst zu nehmen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie wird über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt und bei der Familienplanung unterstützt. Zudem wird bei der Beantragung von Elternassistenz geholfen.
Selbstakzeptanz: Unverfälschte Schönheit
In ihrem »Weihnachtskalender« von 2020 stellten die Netzwerkfrauen am 1. Advent die Künstlerin Katrin Bittl und ihr künstlerisches Schaffen vor. Mit ihr gemeinsam organisiert das Netzwerk Projekte, wie beispielsweise einen Malworkshop, der sich mit dem Thema Frau-Sein beschäftigt.
Dass Mädchen und Frauen durch teilweise utopische Schönheitsideale unter Druck gesetzt wurden und werden, zeigt die Künstlerin mit ihren Übermalungen historischer Gemälde. Den Frauen auf ihren Kunstwerken malt Katrin Bittl eine Behinderung, um mit unrealistischen „makellosen“ Schönheitsidealen zu brechen, in welche Frauen mit Behinderungen nicht zu passen scheinen. Die Behinderungen stehen hierbei nicht im Vordergrund, sie gehören einfach zu den abgebildeten Frauen dazu. Mit den Übermalungen zeigt die Künstlerin, dass Mädchen und Frauen mit Behinderungen schön sind und sich nicht verstecken müssen.
Gemeinsam mit den Netzwerkfrauen setzt sich Katrin Bittl für Selbstakzeptanz ein und möchte das Selbstbewusstsein von Frauen mit Behinderungen mit Hilfe ihrer Kunst stärken.
»Übermalungen« – Katrin Bittl
Das Persönliche politisieren: Sexuelle Selbstbestimmung
In einer Hausarbeit im Rahmen einer Peer-Counseling-Weiterbildung hat sich Esther Junghanns mit »Chancen und Grenzen bei der Auslebung von Sexualität mit körperlicher Behinderung« beschäftigt. Nach der Auswertung ihrer Umfrage kam sie zu dem Schluss, dass Selbstakzeptanz enorm wichtig ist, um sich in seinem Körper und mit der eigenen Sexualität wohlfühlen zu können.
Doch viele der von ihr für die Arbeit befragten Personen empfanden ihren Körper als sexuell unattraktiv. Als Hürden, die Menschen daran hindern, ihre Sexualität frei auszuleben, sieht Esther Junghanns einerseits gesellschaftliche Normen und Werte – beispielsweise die Körpernormen, die in den Medien vermittelt werden – ,aber auch persönliche Ängste der Betroffenen.
Ein offenerer Umgang mit dem Thema »Sexualität und Behinderung« würde dazu beitragen das Selbstbewusstsein von Frauen mit Behinderungen zu stärken. Dieses scheint jedoch für viele Menschen nach wie vor ein Tabuthema zu sein. Sexualität wird den Frauen regelrecht abgesprochen.
»Desto offener man – glaub ich – mit seiner Lebenssituation um geht, umso besser ist es. […] wenn man sich selber annimmt und selber liebt, dann kann man auch besser andere Menschen lieben und in sein Leben lassen.« Esther Junghanns
»Es gibt Menschen, die sind sehr introvertiert, die […]behalten halt alles lieber für sich und deswegen find ich solche Zeitungsinterviews, so wie wir sie gemacht haben, auch so wichtig. Und ich würde da auch mit vor´s Fernsehen gehen […] um anderen Menschen einfach Mut zu machen.« Esther Junghanns
Esther Junghanns setzt sich auch in ihrem Privatleben mit voller Überzeugung dafür ein, dass sich das ändert. Bereits mehrfach berichtete sie gemeinsam mit ihrem Mann in Zeitungsartikeln über Themen wie Beziehung, Kinderwunsch und Sexualität, um damit auch anderen Menschen mit Behinderungen Mut zu machen.
Damit Menschen mit Behinderungen in der Auslebung ihrer Sexualität nicht eingeschränkt werden, dürften zudem Themen wie Sexual-Assistenz und –Begleitung nicht mehr tabuisiert werden. Für die Netzwerkfrauen gehört auch sexuelle Unabhängigkeit zu einer gelungenen Inklusion dazu.