»Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen« (Arendt 1993: 11)
Die Vorstellung von Politik als eindeutige, rationale Lösung von definierten Problemen dürfte im Zuge der sogenannten Corona-Krise einmal mehr brüchig geworden sein. Politik ist vielmehr ein Aushandlungsprozess und alles andere als linear oder unumstritten. Außerdem lässt sich Politik nicht auf staatliche Autorität reduzieren, sondern wird gerade im Zuge von globalen Transformationsprozessen in »neuartige politische Konstellationen« (Adam et al. 2014: 16 f.) entbündelt. Politische Entscheidungen können nicht nur auf eine*n Entscheidungsträger*in zurückverfolgt werden, sondern sind verstrickt in Netze von Abhängigkeiten und Einflüssen.
Das Vielnamenfach Volkskunde_Empirische Kulturwissenschaft_Europäische Ethnologie interessiert sich spätestens seit den 1970er Jahren für solche politischen Aushandlungsprozesse. Die Prämisse der Alltagskulturwissenschaft: Auch Alltag ist politisch. Seit den 1990er Jahren entwickelte sich zudem im englischsprachigen Raum die Forschungsrichtung der Anthropology of Policy, die sich vor allem damit beschäftigt, »wer wann warum und wie im Namen der Politik handelt und Politik als Vorstellung mobilisiert« (Gutekunst/Schwertl 2018: 88). Politik wird also vielmehr als politische Praxis und Machtverhältnisse nicht hierarchisch, sondern als Beziehungsgeflechte und -netzwerke gedacht. Die Aufgabe von kulturwissenschaftlicher Politikforschung ist dabei nicht, zu entscheiden, was nun politisch ist und was nicht. Vielmehr ist das Ziel – und so auch der Ansatz unserer Ausstellung –, dem nachzugehen, wo diese politischen (Macht-)Felder zu verorten sind und wie sie zueinander in Beziehung stehen, wer in diese Netzwerke wie verwoben ist und wie das Politische von unterschiedlichen Akteur*innen wahrgenommen, gestaltet und ausgehandelt wird (vgl. Adam/Vonderau 2014: 21).
In allen Ausstellungsräumen zeigt sich, wie vielschichtig die Verwobenheit der Felder mit Politik ist: Initiativen und Gruppen wie die Antisexistische Aktion München (ASAM), Care.Macht.Mehr., Ni Una Menos Munich oder catcallsofmuc stellen konkrete Forderungen nach politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und versuchen diese durch politisches Handeln in Form von Protestaktionen auf der Straße wie Demonstrationen, Performances oder die Praxis des »Ankreidens«, etc. durchzusetzen. Dagegen begreifen sich Bewegungen wie der Slutwalk zwar als politische Organisation – doch soll die alljährliche Demonstration wiederum »frei« von politischer Positionierung sein, wie ein Mitglied der Gruppe in der Forschung erklärte. Gleichzeitig wird gerade in feministischen Bewegungskontexten im Sinne des Leitspruchs der zweiten Frauenbewegung »das Private ist politisch« viel Wert auf den persönlichen Austausch und das Politisieren von Alltag und Erfahrungen gelegt. Die Gestaltung alternativer Kommunikationsräume und sogenannter »Safe Spaces« (siehe: Safe Space) wird dadurch genauso als politische Praxis begriffen wie die Proteste und Aktionen auf der Straße selbst. In dieser Ausstellung finden sich auch Organisationen und Handlungsfelder, die selbst Ergebnisse politischer Projekte und aus Institutionen heraus entstanden sind, wie beispielsweise guide – Servicestelle für Gründungsberatung, oder die geschlechtersensible Jungen*arbeit der Landeshauptstadt München. In diesen Feldern distanzieren sich die Akteur*innen jedoch zumeist von einer politischen Positionierung und situieren sich als nicht-politisch oder politisch neutral, solange die Arbeit nicht mit konkreten (politischen) Anliegen verbunden wird.
Der eigene Zugang und das Verständnis von politischer Praxis und dem Politischen ist stark von der eigenen gesellschaftlichen Positionierung abhängig (vgl. Collins 1996). Erfahrungen von Privilegien und Diskriminierung prägen den eigenen politischen Ansatz. Patricia Hill Collins (1996) zeigt, dass weiße feministische Bewegungen von einem stärker individualistischen (»das Private ist Politisch«) Politikverständnis geprägt sind, während beispielsweise ein Schwarzer Feminismus das Politische vielmehr kollektivorientiert und intersektional auffasst.
Wir verstehen in dieser Ausstellung also Politik vor allem als politische Praxis verschiedenster Akteur*innen. Diese politische Praxis umfasst politisches Handeln im Sinne von öffentlichen Interventionen und gezielten Strategien, um Gesellschaft zu verändern, aber auch alltägliche weniger sichtbare und subtilere Praktiken nach der Prämisse, dass auch der Alltag politisch ist. Dabei müssen politische Handlungen stets ins Verhältnis zu den gesellschaftlichen Positionierungen der Akteur*innen gesetzt werden, sowie vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse gelesen werden, in die sie eingebunden sind. In diesem Verständnis von Politik stehen auch wir als Forschende wiederum nicht außerhalb der politischen Sphäre. Forschung ist wechselseitig mit politischer Praxis verwoben: Beate Binder stellt fest, »dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik durchlässig sind. Sowohl in Prozessen der Problematisierung als auch in denen der Entwicklung von Lösungen wird Plausibilität nicht zuletzt durch die Bezugnahme auf wissenschaftlich erzeugtes Wissen hergestellt. Umgekehrt sind wissenschaftliche Forschungen geprägt von oder nehmen ihren Ausgangspunkt an politisch induzierten Problemen.« (Binder 2014: 380).
Diese involvierte Forschungshaltung dient einerseits dazu, hegemoniale Verhältnisse in der Produktion von Wissen zu hinterfragen. Gleichzeitig muss sie sich ihrer Positionierung im Feld und damit erneuten Grenzziehung zwischen einem Wir und Sie bewusst werden (vgl. dies.: 377 ff.). Binder betont, dass Kulturwissenschaft »immer schon aus Politik heraus forscht -, ohne dass diese Position vollständig kontrollierbar wäre« (dies.: 380).
Literatur:
Adam, Jens; Vonderau, Asta 2014: Formationen des Politischen. Überlegungen zu einer Anthropologie politischer Felder. In: dies. (Hg.): Formationen des Politischen. Anthropologie politischer Felder. Bielefeld, S. 7-32.
Arendt, Hannah 1993: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Ursula Ludz. München.
Binder, Beate 2014; Troubling policies. Gender- und queertheoretische Interventionen in die Anthropology of Policy. In: Adam, Jens; Vonderau, Asta (Hg.): Formationen des Politischen. Anthropologie politischer Felder. Bielefeld, S.363-386.
Collins, Patricia Hill (1996): Ist das Persönliche politisch genug? Afrikanisch-amerikanische Frauen und feministische Praxis. In: Fuchs, Brigitte; Habinger, Gabriele (Hg): Rassismen und Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Wien, 67-91.
Gutekunst, Miriam; Schwertl, Maria 2018: Politiken ethnographieren. Die ethnographische Regimeanalyse als situierter Forschungsmodus entlang von Aushandlungen, Kämpfen und Situationen. In: Rolshoven, Johanna; Schneider, Ingo (Hg.): Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Graz, S. 83-107.
von Laura Lefèvre
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