Solidarität ist nichts grundsätzlich Gegebenes, sondern muss erst hergestellt werden. Stephan Lessenich u.a. (2020) sprechen daher von Solidarität als einer sozialen Praxis. Dies wird auch in unseren Ausstellungsräumen sichtbar – hier finden sich Praxen des Füreinander-Einstehens und Miteinander-Kämpfens, der gegenseitigen (alltäglichen) Unterstützung, des Sich-Umeinander-Sorgens und des Sich-Miteinander-Austauschens (etwa bei catcallsofmuc, Ni Una Menos Munich, der Antisexistischen Aktion München, dem Slutwalk und den Netzwerkfrauen-Bayern). Folgerichtig definiert Bini Adamzcak (2017: 258) Solidarität als »Beziehungsgeschehen, aus dem kollektive Handlungen erwachsen«. Solidarisch bezeichnet die Art und Weise, in der wir uns aufeinander beziehen und ist nur zusammen mit anderen möglich. Sally Scholz weist darauf hin, dass wir dazu neigen vor allem mit denjenigen solidarisch zu sein, zu denen wir uns aufgrund einer geteilten Herkunft, Sprache, Nationalität, Klasse, Geschlechtsidentität etc. zugehörig fühlen oder mit denen wir gemeinsame politische Ziele verfolgen. Während sich die moralischen Verpflichtungen zum solidarischen Handeln im ersten Fall allerdings eher aus bereits bestehenden Gemeinsamkeiten speisen – Scholz (2008) spricht hier von einer »sozialen Solidarität« – ist es vor allem die »politische Solidarität«, die es vermag, etwaige Differenzen zugunsten eines „shared commitment to a cause“ (Scholz 2008: 34) gleichsam zu transzendieren (vgl. Bayertz 1998: 46).

Solidarisch sind die Aktivist*innen der beforschten feministischen Kollektive oder Gruppen dabei nicht nur untereinander, sondern auch mit »distant others« (Scholz 2008: 257), indem sie sich für deren Belange einsetzen und Sichtbarkeit für oft marginalisierte Lebensrealitäten erzeugen. So solidarisiert sich beispielsweise ASAM mit den polnischen Demonstrant*innen, die gegen die drohende gesetzliche Verankerung eines absoluten Abtreibungsverbotes auf die Straße gingen. Die Münchner Ortsgruppe von Ni Una Menos wiederum begreift sich als Teil einer transnationalen Bewegung, welche ihren Ausgangspunkt in Argentinien hatte. Und auch die Berichterstattung des Online-Magazins Wepsert über feministische Themen jenseits des Mainstreams kann vor diesem Hintergrund als eine solidarische Handlung begriffen werden. Basis für jene Form der grenzüberschreitenden Solidarität ist nach Rahel Jaeggi (2001: 293) die Realisierung einer »idea of connectedness« und das damit verbundene Erkennen von grenzüberschreitenden Abhängigkeitsbeziehungen, »that relates one’s situation to the situation of the others« (ebd.: 291). Es gilt also zu begreifen, dass die Strukturen, in denen wir (zusammen)leben, alle betreffen. Doch erst wenn sich Menschen dazu entschließen, eine Praxis des gemeinsamen Gestaltens zu etablieren und bestimmte Missstände zu einem »common struggle« (ebd.: 297) zu erklären, entsteht ein kollektives »Wir«.

Solidarische Wir-Konstruktionen haben zwangsläufig immer auch einen exkludierenden Charakter (vgl. Heindl/Stüber 2019: 363). So wurden beispielsweise Frauen aus der im Zuge der französischen Revolution so hoch gehaltenen »Brüderlichkeit« ausgeklammert (vgl. Notz 2014: 36 f.) und im Kontext der 68er-Bewegung mussten Sozialistinnen erkennen, dass ihre männlichen Genossen in der Theorie zwar die Gleichstellung aller einforderten, in der Praxis aber weiterhin patriarchales Verhalten an den Tag legten und sich den SDS-Frauen gegenüber autoritär verhielten (vgl. ebd.: 44). Was es brauchte, waren feministische »Gegenkulturen« (ebd.: 46), Freiräume oder Safe(r) Spaces. Das Konzept der Schwesterlichkeit/Sisterhood/Sororidad etablierte sich dabei als ein wichtiger Gegenbegriff gegen jene männliche »Komplizenschaft« (Connell 2015: 133). Als Ausgangspunkt hierfür fungierte die gemeinsame Erfahrung patriarchaler Unterdrückung, welche Frauen unterschiedlicher Sprachen und Herkünfte unter sich vereinen sollte. Und dennoch: Die Forderung nach einer umfassenden Solidarisierung von Frauen aus aller Welt stieß und stößt nicht selten an ihre Grenzen. Es kommt zwar immer wieder vor, dass Aktivist*innen aus sehr unterschiedlichen Kontexten und feministischen Strömungen punktuelle Allianzen bilden, wie es beispielsweise beim Kampf gegen den Paragraphen 218 der Fall war (vgl. Notz 2014: 47). Trotzdem wurden beispielsweise die Belange von Frauen mit Behinderung, welche sich in diesem Kontext gegen die eugenische Indikation und für das Recht auf Elternschaft aussprachen, weitgehend überhört (vgl. Achtelik 2015). Diese oft mangelnde Solidarität macht Zusammenschlüsse wie den der Netzwerkfrauen-Bayern umso dringlicher, denn hier stoßen die Betroffenen ableistischer sowie patriarchaler Unterdrückungsstrukturen auf gegenseitiges Verständnis für ihre spezifische Situation.

Ebenso häufig verklärt wurden und werden Differenzen und Ungleichheiten entlang der Achsen Race und Class. So basierte der im Zuge der zweiten Frauenbewegung geprägte Begriff der »Sisterhood« auf der An- und Einnahme eines gemeinsamen Opferstatus, dessen Beibehaltung allerdings nur aus einer privilegierten, bürgerlichen Position heraus möglich war – andere, marginalisierte Frauen – so bell hooks (1986) – hätten sich darauf nicht ausruhen können (vgl. Notz 2014: 48 f.). Hooks plädierte daher für eine begriffliche Neuinterpretation: »Rather than bond on the basis of shared victimization or in response to a false sense of a common enemy, we can bond on the basis of our political commitment to a feminist movement that aims to end sexist oppression« (1986: 129). Hier wird schließlich auch das spezifische Potenzial einer politischen Solidarität deutlich, die Gemeinsamkeiten erst herstellt und nicht als bereits gegeben begreift.

Auch die fortwährende, kritische Hinterfragung der Kategorie »Frau«, die zwar vorgibt eine universale zu sein, in Wirklichkeit aber partikular bleibt, ist dabei unabdinglich (vgl. Eggers/Mohamed 2014: 65). Denn Solidarität bedeutet nach Alexander Heindl und Karolin-Sophie Stüber (2019: 358) immer auch ein Denken ohne Geländer. Das heißt: Ausgehend vom Besonderen (beispielsweise der Tatsache, dass nicht alle von Sexismus betroffenen Personen in der hegemonialen und immer noch überwiegend biologistischen Definition des »Frauseins« inkludiert sind), wird ein »Kampf um das Allgemeine« (ebd.: 366) geführt. Das Besondere (etwa die Belange von trans Frauen und nicht binären Personen) ist dann nicht länger als die Abweichung von der Norm oder Ausnahme und somit weniger wichtig und vernachlässigbar zu begreifen, sondern gleichsam als Basis, auf deren Fundament ein neues Allgemeines geformt und durchgesetzt werden kann. Wer dieses feministische Wir ist, bleibt also beständig umkämpft.

Ferner ist Solidarität auch etwas, das immer wieder aktiv eingefordert wird. So verlangt beispielsweise die Initiative Care.Macht.Mehr angesichts nationalistischer Grenzschließungen in Zeiten der Coronakrise nach einer Stärkung internationaler Solidarität. Ziel ist die Schaffung einer solidarischen und sorgenden Gesellschaft, welche die Bedürfnisse und nicht die Profitinteressen in den Vordergrund stellt. Solidarität meint somit die Etablierung von »Beziehungen der Kooperation statt Beziehungen der Konkurrenz« (Adamzcak 2017: 269) und steht einer neoliberalen wie kapitalistischen Vereinzelung und Individualisierung entgegen. Vor diesem Hintergrund ist das gegenseitige Empowerment und Coaching der Frauen von guide allenfalls eine zeitlich begrenzte Solidarität, denn letzten Endes sind sie dann dennoch auf sich allein gestellt.

Solidarität ist schließlich weder reine Utopie, noch bloßes politisches Mittel, um diese zu erreichen (vgl. ebd.: 260). Das heißt: Solidarität ist nicht von instrumenteller oder funktionaler Natur – sie ist vielmehr der Grund, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Denn sie verfügt immer auch (wie wir bei ASAM gesehen haben) über einen spezifischen Selbstzweck. Ebenso genügt es nicht, sie in eine wie auch immer geartete, bessere Zukunft zu entwerfen, sondern sie muss im Hier und Jetzt gelebt werden. Das ist sicherlich nicht immer einfach umzusetzen und es gibt unzählige Fallstricke, doch auch daran kann man wachsen. Für die feministischen Kollektive und Gruppen ist Solidarität daher ein fortwährender, kräftezehrender Aushandlungsprozess; aber die Gewissheit, nicht alleine zu sein ist auch ungeheuerlich motivierend und beflügelnd.

 

Literatur:
Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Berlin.
Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin.
Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. In: dDers. (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt a.M., S. 11-53.
Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Wiesbaden.
Eggers, Maureen Maisha; /Mohamed, Sabine (2014): Schwarzes feministisches Denken und Handeln in Deutschland. In: Franke, Yvonne; Mozygemba, Kati; Pöge, Kathleen (u.a.) (Hg.): Feminismen heute. Positionen in Theorie und Praxis. Bielefeld, S. 57-76.
Heindl, Alexander; /Stüber, Karolin-Sophie (2019): Die Pluralität von Solidaritäten und Formen der Kritik. In: SWS-Rundschau 59(4), S. 352-370.
hooks, bell (1986): Sisterhood. Political Solidarity Between Women. In: Feminist Review 23, S. 125-138.
Jaeggi, Rahel (2001): Solidarity and Indifference. In: ter Meulen, Ruud; Arts, Wil; Muffels, Ruud (Hg.): Solidarity in Health and Social Care in Europe., Dordrecht (u.a.), S. 287-308.
Lessenich, Stephan; /Reder, Michael; /Süß, Dietmar (2020): Zwischen sozialem Zusammenhalt und politischer Praxis. Die vielen Gesichter der Solidarität. In: WSIMitteilungen 73(5), S. 219-226.
Notz, Gisela (2014): (Kein) Abschied von der Idee der Schwesterlichkeit? Herausforderungen für feministische Solidarität. In: Franke, Yvonne; Mozygemba, Kati; Pöge, Kathleen (u.a.) (Hg.): Feminismen heute. Positionen in Theorie und Praxis. Bielefeld, S. 33-55.
Scholz, Sally J. (2008): Political Solidarity. University Park, S. 17-50.
von Anna Klaß
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